Kaum ein Buch Dostojewskijs, das mir bisher untergekommen, ist so vielschichtig wie die Brüder Karamasoff. Von der Rahmenhandlung, dem Vatermord an Fjodor Pawlowitsch Karamasoff, über die Schuldfrage desselben, den drei Frauen an der Seite der drei Brüder, bis zum Großinquisitor kann man sich womöglich unbegrenzt über die Interpretation dieses Werkes auslassen.
Ich selbst will nur jene kleine Facette des Buches herausgreifen, die mir beim Lesen am stärksten ins Gesicht sprang, und mit diesem Artikel dem einen oder anderen Leser Lust machen, sich selbst an dieser Lektüre zu versuchen. Ich meine nämlich in den Brüdern Karamasoff, Dmitri, Iwan und Aljoscha, die intellektuelle Entwicklung der menschlichen Zivilisation wiederzuerkennen.
Gottes erste Schöpfung: Der Naturmensch
Der älteste, Dmitri, verkörpert den Naturmenschen. Er hat nach einer harten Kindheit als Soldat gedient, verfügt über enorme Körperkraft und genauso unbeugsam ist sein Geist. Er ist ein aufbrausender, impulsiver Draufgänger, der mehrmals in Schlägereien verwickelt ist. Selbst als Angeklagter vor Gericht kann er sich nicht zurückhalten, unliebsame Zeugen durch Zwischenrufe zu beleidigen. Er ist ehrlich und direkt bis zum eigenen Schaden. Eine Beleidigung läßt er nicht auf sich sitzen.
Seine einzige Schwäche ist das schöne Geschlecht. In den Händen Gruschenkas ist dieser selbstbewußte Mann formbar wie Wachs. Obwohl die Beziehung zu diesem Mädchen unbekannter Herkunft für einen Adeligen wie Dmitri ungeheuerlich ist, verfällt er ihren weiblichen Reizen völlig besinnungslos und vergißt darüber sogar seine Verlobte, die durch ihren edlen, doch auch reinen Charakter zu blaß ist, um auf einen Mann wie Dmitri zu wirken. Er versteigt sich gar auf die fixe Idee, Gruschenka könne seinen Vater heiraten, nur weil der Vater Geld hat, welches dem jungen Dmitri fehlt.
Ein stürmisches Herz
Seine Ehre ist Dmitri sehr wichtig, und mehrmals betont er, daß er zwar ein Schuft sei, aber kein Dieb. Diese feine Unterscheidung ist ihm sehr wichtig, und er wiederholt sie durch den ganzen Roman hinweg: Zwar hat er seiner Verlobten Geld gestohlen, doch nicht aus kalter Berechnung, sondern um im Rausch der Leidenschaft mit Gruschenka durchzubrennen. Für ihn ist das verwerflich, doch immer noch enschuldbarer, als dasselbe kalten Blutes zu tun.
Er ist sich seiner Schwäche bewußt und bedauert sie, weiß aber auch, daß er seelisch zu schwach ist, sich zu bessern. So sagt er vor Gericht aus, er hätte die von seinem ersten Exzeß übriggebliebene Hälfte der gestohlenen Summe wochenlang mit sich herumgetragen, stets in der festen Absicht, sie zurückzugeben – bevor er sie dann in einem zweiten Exzeß mit Gruschenka verschleuderte.
Ist es Zufall, daß dieser Mann, dessen stürmisches Herz sich unmöglich in die moderne Gesellschaft fügen kann, am Ende des Werkes zur Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt wird?
Die Aufklärung: Der Geistesmensch zieht auf
Iwan, der zweitgeborene, ist gänzlich anderen Wesens. Er ist dem urtümlichen Dmitri entwachsen und verkörpert den Geistesmensch der Aufklärung. Aus ihm spricht der Spötter Voltair, wenn er das herrschende Wertesystem durch rationales Sezieren infragestellt. Von den philosophischen Aufsätzen, die er diesbezüglich veröffentlicht, scheint er seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Im Grunde seines Herzens ist er Nihilist und geht sogar so weit, zu behaupten, daß ohne Gott alles erlaubt wäre. Der Mensch sich selbst der Richter.
Er besitzt geradezu eine Meisterschaft darin, sich die Welt zurechtzurationalisieren. Immer hat er ein gutes Argument dafür, nicht genauer hinzusehen, wo unbequeme Fragen über seine eigene moralische Schuld am Tod des Vaters versteckt sein könnten. Er hat stets gute Gründe, warum er so handelt, wie er es tut. Nie ist er um eine Erklärung verlegen. Auch der Diener Ssmerdjakoff bemerkt: „Mit einem klugen Menschen lohnt es sich zu reden.“
Der Geist ist vom Körper gespalten
Man frägt sich nur, warum Iwan so häufig in Wutausbrüche gerät. Nämlich praktisch in jedem Gespräch und immer dann, wenn ihm jemand zu nahe tritt. Kaum ein einziges Gespräch kann dieser vorgeblich so edle Mensch führen, ohne in Beleidigungen abzugleiten. Im Gegenteil: Trotz seines Intellekts und seiner Bildung scheint niemals er das Gespräch zu führen. Vielmehr befindet er sich immer in der Defensive, fühlt sich immer angegriffen, wovon er sich schließlich durch unbeherrschtes Geschrei Luft macht. All das scheint seiner Seele jedoch wenig Frieden zu bringen: Sein eigenes Gewissen quält Iwan so sehr, daß er zum Ende des Romans in den Wahnsinn abzugleiten droht und bereits von einem Teufel in seinem Wohnzimmer zu phantasieren beginnt.
Am Ende erweist sich Iwan als noch schwächer denn Dmitri, da er seinen Intellekt nur dazu nutzt, seine eigenen Unzulänglichkeiten zu kaschieren. Selbst seinen Plan, Dmitri vor der sibirischen Zwangsarbeit zu retten, muß er an eine tatkräftigere Person abgeben.
Eine bastardisierte Schimäre
Eine erste Synthese finden diese beiden widerstreitenden Teile der menschlichen Seele im Diener Ssmerdjakoff, dem Bastardsohn Fjodor Pawlowitschs.
Wie Dmitri wird er beherrscht von seinen Begierden, doch wozu der eigentlich gutherzige Dmitri sich nie durchringen konnte – dem Mord am eigenen Vater –, wird von Smerdjakoff kalten Blutes ausgeführt und obendrein die Schuld an der Tat dem aufbrausenden Dmitri in die Schuhe geschoben.
Und auch Iwan wird von diesem Diener, der nicht einmal vollwertiges Mitglied der Familie ist, übertrumpft: Wiewohl Ssmerdjakoff sicher mehr Willenskraft und Durchsetzungsvermögen hat als Iwan, stellt er es unter vier Augen so dar, als hätte er nur auf Iwans Anweisung hin gehandelt. Im Gespräch wird deutlich, daß Iwan sich in seiner Rolle als Umwerter aller Werte nur so lange gefallen hat, bis einer kommt, um diese Umwertung konsequent anzuwenden: Nun erschrickt er darüber, Ssmerdjakoff könne ihn ernst genommen haben.
Der morallose Mensch bleibt unglücklich
Ich denke, daß Dostojewskij Ssmerdjakoff gegen Ende des Romans nicht grundlos Selbstmord begehen läßt: Nicht Gewissensbisse sind es, die ihn plagen, sondern die Erkenntnis, daß ihn seine Tat am Ende auch nicht glücklich macht. So großartig seine Anlagen auch sind: Er stellt sie in den Dienst der falschen Sache. Er mag seine Mitmenschen übertölpeln, ihnen konsequenzenlos schaden, und gar Aljoscha kommt nicht ungeschoren davon, liegt dessen Familie nun doch in Trümmern – doch am Ende hat auch Ssmerdjakoff nichts davon. Die Anerkennung, die er sich von Iwan erhofft hatte, bleibt aus.
Der Ruchlose mag besser leben als seine Mitmenschen, ja, diese für den eigenen Vorteil sogar ungestraft schädigen, doch am Ende wird auch er davon nicht glücklich.
Ssmerdjakoff ist ein erster, fehlgeschlagener Versuch, Eros und Logos in Einklang zu bringen, doch mangels moralischer Standards verkommt er zu einer Schimäre, die bestiengleich nichts anderes mit ihrer Existenz anzufangen weiß, als anderen zu schaden. Könnte man in ihm die moderne Linke wiederfinden?
Thymos moderiert gewinnbringend zwischen Eros und Logos
Erst Aljoscha, der als letzter das Licht der Welt erblickte, gelingt die Vereinigung aus rohen Emotionen und gelähmtem Intellekt. Er ist nicht Sklave seiner Triebe, verachtet diese jedoch auch nicht.
Nicht ein einziges mal stehen das, was er will, und das, was er tut, im Widerspruch zueinander. Den Richtern wirft er ins Gesicht, sein Bruder Dmitri wäre ganz sicher unschuldig – der beste und völlig ausreichende Beweis wäre, daß sein Bruder die Unschuld beteuere.
Während Iwan von der Angst geplagt wird, womöglich der eigentliche Initiator am Tod des Vaters zu sein, und sich daher bereitwillig einreden läßt, Dmitri hätte den Vatermord ganz allein begangen, vertraut Aljoscha auf seinen Bruder: Wenn Dmitri ihm in die Augen sieht und beteuert, er wäre unschuldig, dann ist er das auch, und kein Gericht der Welt könnte Aljoscha vom Gegenteil überzeugen.
Die Antwort auf die Sinnkrise
Aljoscha ist von einer kindlichen Unschuld, die sich keinem Zwang unterworfen sieht. Menschen wie ihn kennt man kaum, außer vielleicht aus der Geisteswelt einiger großer Denker. Vielleicht ist er auch deshalb nicht so scharf gezeichnet: Während die Motive seiner Brüder in aller Deutlichkeit geschildert werden, bleibt unklar, was genau Aljoscha antreibt – unser aller Wohl, möchte man es unbeholfen in Worte fassen.
Aljoscha ist die Antwort auf die moderne Sinnkrise; er hat die Iwan fehlende Spiritualität wiedergefunden, ohne darüber den Verstand zu verlieren. Zwar verbringt er seine Jugend als Novize im Kloster, fühlt jedoch nach seiner Rückkehr in die Gesellschaft kein Bedürfnis, andere zu bekehren. Nicht einmal dem unchristlichen Vater macht er Vorhaltungen, wiewohl er auf dessen moralische Fragen stets mit ungeschönter Ehrlichkeit antwortet. Er definiert sich nicht über Trotz und Verachtung des Althergebrachten; er fällt nach Iwans Nihilismus nicht in religiösen Fanatismus; sondern er bietet selbst eine neue, konstruktive Lösung, in der jeder willkommen ist, der nur reinen Herzens anklopft.
Aljoscha könnte sein, was die heutige Rechte sucht – in seiner tiefenphilosophischen Basis bis hin zum tagesaktuellen Kulturkampf. Ob wir dem genügen können – das hängt vom Verhalten jedes einzelnen ab.