Gemeinhin wird Schillers Drama Wilhelm Tell als Lobgesang auf den Freiheitskampf eines Volkes gegen die Tyrannei verstanden. Und die Historie, auf der das Stück basiert, ist sicher genau das. Für Schillers literarische Ausgestaltung dieses Stoffs würde ich indes eine andere Interpretation vorschlagen: Es ist ein Lobgesang auf den Charakter des Wilhelm Tell, nach dem das Werk benannt ist. Dieser avanciert zum strahlenden Helden, der nicht nur zentrale Figur im Kampf gegen die Unterdrücker Habsburgs ist, sondern auch eine vornehme Persönlichkeit besitzt, die auch in Friedenszeiten einen Gewinn für seine Mitmenschen darstellt.
Ein glanzvoller Auftritt
Schon der erste Auftritt zeigt das überdeutlich: Ein Schweizer Landsmann wird vom Landesherrn, dem Vogt Geßler, verfolgt und sucht Hilfe bei drei Bergleuten aus Uri, auf daß sie ihn über den Vierwaldstätter See setzen, um die Verfolger abzuschütteln. Diese weisen ihn ob eines Unwetters ab. Nicht einmal der Fährmann erklärt sich bereit, eingedenk des Sturms eine Überfahrt zu wagen, obschon das Leben des Flüchtigen davon abhängt. Erst das Hinzustoßen Tells bringt Regsamkeit in die ratlose Runde, greift dieser doch entschlossen zum Ruder, um seinen Landsmann zu retten.
Zur Rede gestellt, warum der Tell sich getraut, was er nicht konnte wagen, gibt der Fährmann freimütig zu:
„Wohl beßre Männer tun‘s dem Tell nicht nach,
Es gibt nicht zwei, wie der ist, im Gebirge.“
So viel zum Eröffnungsschuß des Dramas, der anscheinend nur dazu diente, Wilhelm Tell einen glanzvollen Auftritt zu verschaffen. Und wie eine Bestätigung dieser beiden Verse präsentiert sich nun das übrige Werk, als wollten sie nur evozieren, was kommen muß: Die Dichotomie des Hochstehenden gegen den Rest der Welt.
Handeln aus Verbundenheit und Loyalität
Nicht nur ist Tell mit herausragenden Fähigkeiten gesegnet; es ist ihm auch wohl bewußt, wie er im Gespräch mit seiner Frau zum 1. Auftritt des 3. Aufzugs bekennt:
Hedwig: Das Schwerste wird dein Anteil sein, wie immer.
Tell: Ein jeder wird besteuert nach Vermögen.
Damit wird auch ausgedrückt, daß es für Tell nicht schlimm ist, an der gemeinsamen Sache das Schwerste zu übernehmen. Ich denke, es ist keine gewagte Behauptung, daß das auch für andere Situationen als den Sturz eines Tyrannen gilt: Tell setzt seine Fähigkeiten bereitwillig in den Dienst seiner Landsleute, jener Gemeinschaft, mit der er verkehrt, und der er sich zugehörig fühlt.
Tatsächlich ist diese freiwillige Bereitschaft die einzige echte Solidarität, die es gibt, und hat mit dem modernen, inflationären Gebrauch des Wortes nichts zu tun. Denn heute heißt Solidarität meistens, daß man Leuten, mit denen man nichts gemein hat, gegen seinen Willen etwas geben soll. Solch eine Mentalität ist dem friedlichen Zusammenleben aber kaum förderlich, ja, ich möchte gar behaupten, schädlich. Den Fähigen ins Joch zu spannen, wird jenen nicht nur unnötig ermüden, sondern sukzessive auch gegen die anderen aufbringen, weil er sich berechtigterweise fragt, warum er zu Gunsten von völlig Fremden ausgebeutet wird.
Und auch bei Tell darf man davon ausgehen, daß seine Hilfsbereitschaft primär auf die Verbundenheit zu seinen Landsleuten zurückzuführen ist, und nicht auf abstrakte Philosophaster, wie man sie in modernen Hörsälen vernimmt. Ausnutzen läßt er sich nicht. Betrachten wir etwa den 3. Auftritt des 1. Aufzugs, als Stauffacher an ihn herantritt, Tell solle sich an der Rebellion zu beteiligen:
S: Wir könnten viel, wenn wir zusammenstünden.
T: Beim Schiffbruch hilft der einzelne sich leichter.
S: So kalt verlaßt Ihr die gemeine Sache?
T: Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst.
S: Verbunden werden auch die Schwachen mächtig.
T: Der Starke ist am mächtigsten allein.
S: So kann das Vaterland nicht auf Euch zählen,
Wenn es verzweiflungsvoll zur Notwehr greift?
T: Der Tell holt ein verlornes Lamm vom Abgrund,
Und sollte seinen Freunden sich entziehen?
Doch was ihr tut, laßt mich aus eurem Rat,
Ich kann nicht lange prüfen oder wählen;
Bedürft ihr meiner zu bestimmter Tat,
Dann ruft den Tell, es soll an mir nicht fehlen.
Tell hilft den Tieren, für die er sich als Mensch verantwortlich fühlt, sowie seinen Freunden. Davon, daß er jedem Hergelaufenen unter die Arme greift, ist hier keine Rede. Und auch im übrigen Drama ist mir dazu kein Vers ins Auge gefallen.
Kurz: Aus Loyalität gegen seine Landsmänner, erklärt sich Tell, zu helfen bereit. Übrigens auch nicht, weil er sich einen persönlichen Vorteil verspricht. Denn er fürchtet nicht den Vogt, „tu[t] recht und scheu[t] keinen Feind“ (3. Aufzug, 1. Auftritt). Für sein eigenes Leben stellt der Geßler kaum eine Beeinträchtigung dar. Tatsächlich geht Tell dem Vogt nicht einmal aus dem Weg, nachdem er erst im ersten Auftritt einem Bergmann zur Flucht verholfen hat – unter der Nase des Vogtes.
Widerstand für das Bewahren
Tells Einsatz gilt der guten Sache; einer besseren Welt für die Schweizer, und ist damit erhaben gegen die pöbelhafte Opposition, die schon aus Prinzip und nur um zu provozieren gegen das System ist. Tell hat ein bestimmtes Ziel zu erreichen, und in dem Moment, in dem sich die Verhältnisse der Schweizer konsolidieren, endet Tells Rebellengeist, und er wird zum häuslichen Familienvater, der seine Söhne nach dem eigenen Ebenbild aufwachsen sieht. Er hat dann erreicht, was er hat erreichen wollen, und findet seine innere Ruhe, statt in ewiger Abwärtsspirale nach vorne zu preschen.
Er ist kein Suchender, kein Getriebener, kein Entwurzelter, dessen einziger Lebenssinn in immerwährenden Konfrontationen besteht, um sich von der Leere der eigenen Existenz abzulenken. Tell hat etwas, wofür es sich zu leben lohnt; er hat etwas, wofür es dieses Leben zu riskieren lohnt. Er schützt dieses Etwas und verteidigt es: Er ist ein Bewahrer.
Ein Mann der Tat
Es ist bezeichnend, daß allein Tell nicht am nächtlichen Schwur auf dem Rütli (2. Aufzug, 2. Auftritt) teilnimmt. Just als stünde er über dieser Versammlung mit ihren banalen Absichtsbekundungen; als wäre für ihn die Meinung der gemeinen Masse gar unerheblich: Er hat Stauffacher bereits im 1. Aufzug versichert, er wäre dabei, ganz egal, was auf dem Rütli beschlossen würde. Sein Wort gilt, gleich was da kommen möge. Er macht Nägel mit Köpfen. Die Versammlung und ihr Ratschlag haben keinerlei Relevanz für einen Mann wie Tell.
Das Reden sollen andere übernehmen – er selbst indes beteiligt sich, sobald die Dinge ernst werden. Prüfen und Wählen sind nicht das seine, weil er, mit einer Situation konfrontiert, instinktiv weiß, was richtig ist – und danach handelt. Und weil sich Verstand und Wille bei ihm im Einklang befinden, fällt es ihm auch so leicht, zu vollbringen, was er vollbringt: Kein Zaudern hält diesen Mann zurück.
Man möchte geradezu Nietzsche zitieren, der im Antichristen schrieb:
„Formel unsres Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel…“
In den Wirren des politischen Intrigenspiels müßte ein Mann wie Tell notwendig zugrunde gehen. Nicht von ungefähr fallen viele Parallelen zu Shakespeares Coriolan ins Auge. Dessen Verderb gerade war gerade die Politik. Über ihn heißt es im ersten Auftritt des dritten Aufzugs:
„Sein Sinn ist viel zu edel für die Welt.
Er kann Neptun nicht um den Dreizack schmeicheln,
Nicht Zeus um seine Donner: Mund und Herz ist eins.
Was seine Brust nur schafft, kommt auf die Zunge,
Und ist er zornig, so vergißt er gleich,
Daß man den Tod je nannte.“
Es ist eine Art Mensch, die für sich selbst lebt; die sich geradezu jenseits der Zivilisation befindet und deren Verstand sich noch im Einklang befindet mit ihren Instinkten: Sie denkt nicht in verschlagenen Winkelzügen, sondern tut rundheraus, was sie von tiefstem Herzen für richtig hält – und macht daraus auch keinen Hehl. Ein Mensch, dessen Lebenskraft noch nicht vergeistigt ist, sondern in vollem Saft und Kraft steht; dessen Verstand durch ein strahlendes Thymos befeuert wird.
Aufrichtigkeit
So ist es nicht verwunderlich, daß selbst der Vogt, als er mit dem gefesselten Tell zurück zu seiner Festung fährt und dabei in Seenot gerät, den Gefangenen darum bittet, das Steuer des Schiffs zu übernehmen, um sie alle vor dem Tode zu bewahren. Tell hält seinen Teil der Abmachung, „fuhr redlich hin“ (4. Aufzug, 1. Auftritt) und springt erst vom Schiff, als „das Ärgste überstanden“ (ebenda). Auch hier zeigt sich der ehrenhafte – für manchen vielleicht gar zu ehrenhafte – Charakter dieses Mannes, der selbst seinem Feind ein gegebenes Wort nicht bricht.
Umso verwunderlicher ist, daß dieser aufrechte Mann kein Zaudern kennt, den Geßler kurz darauf heimtückisch und aus dem Hinterhalt zu ermorden. Doch betrachtet man seine Motivation, so wird auch diese Regung verständlich, ja, menschlich: Nicht Blutgier und Mordlust sind es, die ihn zu dieser Gewalttat treiben. Ja, nicht einmal die Angelegenheit seiner Landsleute: Es ging ihm um seine Familie. Denn er weiß, daß diese nicht mehr in Frieden wird leben können, solange nicht einer von beiden aus dem Verkehr geräumt ist: Tell oder Geßler. Und wie sich wohl jeder geistig gesunde Mensch entscheiden würde, entscheidet sich auch Tell dafür, daß er selbst nicht derjenige sein soll, den es trifft.
Wehrhafter Mensch
Daher muß betont werden: Tell ist weder ein grausamer, noch gewalttätiger, noch destruktiver Mensch. Ganz im Gegenteil will er nur in Frieden leben und sinnt niemandem Böses. Erst die Grausamkeit des Vogtes, ihn dazu zu zwingen, einen Pfeil auf sein eigenes Kind abzufeuern, lehrt ihn derlei Empfindungen. Denn seine Natur ist die eines Familienvaters, der Frau und Kinder liebt, und für diese alles zu tun bereit ist. Selbst auf dem Hohlweg denkt er nur an seine Kinder:
„Am wilden Weg sitzt er mit Mordgedanken,
Des Feindes Leben ist‘s, worauf er lauert.
– Und doch an euch nur denkt er, lieben Kinder,
Auch jetzt – Euch zu verteid‘gen, eure holde Unschuld
Zu schützen vor der Rache des Tyrannen,
Will er zum Morde jetzt den Bogen spannen.“
Daher ist es logisch, daß, wer ihnen droht, den Tell zu fürchten hat. Dann kann der einstmals friedfertige Mann auch einen Mord begehen, ohne sich Gewissensbissen schämen zu müssen: Die Bluttat ist nun im Einklang mit dem Moralempfinden des eignen Herzens, und Tell daher bereit, sie auszuführen. Was vorher undenkbar, wird nun zur regelrechten Pflicht, da sein Herz es von ihm verlangt. Es will Gerechtigkeit, und Tell vertraut lieber diesem Urinstinkt, statt sich in wirrer Jurisprudenz zu verlieren. Das macht ihn nicht nur unendlich viel menschlicher, als es unsere moderne Welt eigentlich erlaubt, sondern zugleich auch gesünder: Statt seine Instinkte zu verleugnen, nutzt er diese als verläßliches Instrument der Urteilsfindung.
Wundert es also, daß gerade der Schutz seiner Kinder und seines eigenen Blutes die tragende Motivation Tells ist? Eben genau das, was der Mensch auch aus evolutionärem Imperativ im Angesicht einer solchen Situation empfinden sollte: Nicht Ruhm und Ehre sind, wonach der Mensch instinktiv strebt, sondern der Fortbestand der eigenen Blutlinie. Das ist die letzte Konsequenz, aus der der Mensch seine Antriebskraft schöpft und die es ihm ermöglicht, Berge zu versetzen.
Der Mensch von Seelengröße
Wilhelm Tell ist eine herausragende Persönlichkeit, doch auf andere Weise als Coriolan, Achill oder auch der historische Julius Caesar. Nicht nur daß letztere hauptsächlich nach dem eigenen Vorteil trachten, unterscheidet Tell von jenen, sondern auch seine Bodenständigkeit. Er bildet sich nichts ein auf seine Anlagen, stellt sie im Gegenteil bereitwillig in den Dienst derer, mit denen er sich verbunden fühlt – seien es seine Landsleute, oder die eigene Familie. Er strebt nicht danach, sich über andere zu stellen und erkennt seine Größe als de facto Realität an, die er aber auch nicht verleugnet: Die Menschen sind nicht gleich und können sich nur gemäß ihrer Anlagen entfalten. Tell, dem Höheres möglich ist, erkennt sein Privileg, ohne darüber hochmütig zu werden.
Er ist, wenn man ihm aufrecht begegnet, ein umgänglicher, freundlicher, wiewohl auch gütiger und genügsamer Mensch. Tugend, Ehre und ein Beschützerinstinkt adeln Wilhelm Tell weit mehr als sein Bedürfnis, sich gegen andere auszuzeichnen. Er will kein Reich erobern, sondern Frieden für sich und jene, die ihm wichtig sind.
Und wollen wir Rechte das nicht auch?