Der Kampf um die Ukraine geht in diesem Frühjahr in sein viertes Kriegsjahr. Was zu Beginn so schockierend wirkte, dass es einen Epochenwechsel einzuläuten schien, wich schon bald auf die hinteren Plätze der Wahrnehmung, da andere Krisen und Schockereignisse den alten Kontinent trafen. Der Alltag und seine Herausforderungen übertünchten das Kriegsgeschehen am Dnjepr ebenso und mit der Zeit verkamen die Stahlgewitter in der Ukraine sowie die Berichterstattung darüber zu einem bloßen Hintergrundrauschen, das die mediale Flut stets begleitet.
Dieses nebensächliche Rauschen des Krieges wandelte sich für den Verfasser dieser Zeilen vergangene Woche mit einem Mal in einen wuchtigen Knall, auf den ohrenbetäubende Stille folgte. Zwischen Emails, Postings und Geschreibsel enthielt die Nachricht eines Freundes die Botschaft: „Richard ist in der Ukraine an der Front gefallen.“
„Ich will mich nicht einfach nur beschweren, ich will etwas verändern“
Die erste Begegnung mit Richard ereignete sich vor vielen Jahren in Wien. Er erklärte sich bereit, unsere Gruppe übers Wochenende bei sich zu beherbergen und in der Stadt herumzuführen. Am Flughafen erkannten wir uns rasch, da wir das gleiche T-Shirt einer Szenemarke trugen. Ansonsten unterschieden sich unsere Kleidungsstile deutlich. Richard war klar als Anhänger der Blackmetal-Szene zu erkennen. Seine Tattoos ergänzten den Stil, wo seine Haut zum Vorschein kam.
Er führte uns auf einer Stadt-Tour durch Wien und zeigte uns die Orte, die man gesehen haben muss. Zwischen den Stationen sprachen wir über dieses und jenes und schließlich auch über die Beweggründe, die der Anlass für unser Zusammenkommen waren. Richard sprach von den desaströsen Zuständen in seiner Stadt und seinem Land und davon, dass es so nicht weitergehen könne. Damit dieses Land eine Zukunft habe, brauche es Veränderung. Mit Blick auf die gesellschaftlich und politisch verfahrene Situation blieb mir ein Satz seinerseits im Gedächtnis:
„Ich will mich nicht einfach nur beschweren, ich will etwas verändern.“
Das Wochenende zog dahin. Wir konnten in Richards Wohnung schlafen und wurden das ganze Wochenende über von ihm bestens betreut und in der Donau-Stadt herumgeführt. Ihn umgab schon damals die soldatische Aura, mehr ein Mann der Tat als des Wortes zu sein. Dieses Bild bestätigte sich, als wir uns über unsere Erlebnisse während des Militärdienstes austauschten und wenig überraschend heraus kam, dass auch er den Wehrdienst gerne geleistet hatte und das Soldatenhandwerk schätzte. Am Sonntagmittag bedankten wir uns für seine Gastfreundschaft und reisten ab.
Das nächste Aufeinandertreffen folgte Jahre später. Allerdings im Zuge eines etwas unübersichtlichen Handgemenges. Linke Akteure versuchten sich in Provokationen und Beleidigungen am Rande eines Gedenkzuges, nachdem ein Aktivist beinahe tödlich von einem Stein verwundet worden war, den das hinterhältige Pack von einem Haus hinab in den Demo-Block geschleudert hatte. Ein paar Franzosen ließen sich durch die Provokation ködern.
Meine eigenen Bemühungen, die zu Recht in Rage versetzten Aktivisten in die Reihe zurückzuweisen, trugen wenig Früchte. Dann kam Richard hinzu. Diszipliniert und mit kühlem Kopf trat er zu der Gruppe, gab mit einigen kurzen Worten den Verhaltenskodex bekannt und wies die ausgescherten Aktivisten so sanft wie möglich, aber so rau wie nötig in die Reihen zurück. Mir selbst fuhr er ebenso unvermittelt rabiat an den Kragen, bis er merkte, dass wir die gleichen Absichten verfolgten. Ein ehrliches Versehen kann man jemandem aber kaum übelnehmen.
Richard war jemand, der einem trotz oder gerade wegen seines lakonischen Wortgebrauchs im Gedächtnis blieb. Vor allem da sein ernstes, wenn auch freundliches Auftreten und sein nüchternes Gemüt im echten Leben so gar nicht mit seinem Hang zu absurdem Internet-Humor und diversen Netz-Kuriositäten vereinbar schienen, mit denen seine Abonnenten in sozialen Medien von ihm versorgt wurden. Der Bruch von Internet-Humor und Szene-Postings hin zu einer ernsthaften Bekanntmachung erfolgte im März 2022. Seinem Hang dazu blieb er jedoch auch danach treu.
Freiwilliger auf eigene Faust
Drei Wochen nach Beginn der russischen Invasion reiste Richard nach Kiew. Das war noch Monate bevor die ukrainische Führung eine eigene Fremdenlegion aushob und zehntausende Freiwillige aus aller Welt rekrutierte. Hier reiste ein Mann aus eigener Motivation und auf eigene Faust an den Dnjepr. Als Freiwilliger aus eigenem Entschluss, um für die ukrainische Nation und ihr Volk zu kämpfen.
Auch bei diesem Entschluss ging es ihm darum, die Welt selbst zu beeinflussen und zu verändern und nicht einfach nur zu reden und sich zu empören. Sein Verständnis der Lage war klar: Die Ukraine sei bedroht und werde von ihrem alten Feind Russland angegriffen. Ein echter Europäer könne hierbei nicht nur Schultern zuckend zusehen und nichts tun, sondern sei gezwungen zu handeln. Richard handelte.
Während Millionen anderer junge Männer gebannt die neusten Videos aus dem Kriegsgebiet verfolgten, sich in Debatten über Geopolitik oder der Rolle Russlands, der EU oder den USA bemüßigten oder sich in Wortgefechten ankeiften, schritt er zur Tat für das, was ihm das Richtige schien. Die Ukraine und ihr Volk, ihre Familien und Frauen, ihre Städte und Dörfer vor den einfallenden Russen zu schützen und zu verteidigen. Nicht mit Worten, sondern durch Taten. Und das mit dem höchsten Einsatz, den man als Mensch einer Sache widmen kann: Dem eigenen Leben.
Wer dafür einen Erklärungsansatz benötigt, sollte schlicht bedenken, dass dieser Krieg nicht für jeden ein fremder Konflikt ist und manche Menschen eine Bindung zu diesem Land und seinen Leuten haben. Richard hatte sie offensichtlich. Der Angriff auf die Ukraine kann desweiteren durchaus als russischer Angriff auf Europa gewertet werden. Für die Idee von Europa kämpfte er bereits vor dem Ukrainekrieg.
Wer diese Beweggründe und Bindungen nicht versteht, aber über eine soldatische Ader verfügt, dem bleibt ebenfalls nichts anderes übrig außer einem Soldaten, der für seine Sache ins Feld zog, Ehre und Respekt zu erweisen.
Kampf für Frieden oder Krieg um des Krieges Willen?
Drei Wochen nach Beginn der russischen Invasion in die ukrainischen Streitkräfte einzutreten ist nicht nur eine Tat aus Überzeugung, sondern auch ein waghalsiges Unterfangen. Die Front stabilisierte sich erst Monate später. Die Russen machten von Anfang an klar, dass Freiwillige aus dem Ausland ohne Umschweife erschossen werden würden. Die im Lauf des Jahres 2022 eingerückten Reddit-Legionäre, die einen echten Krieg mit ihren Computerspielen verwechselten und nach einer ersten Feuertaufe bereits wieder in Scharen das Land verließen, waren nicht die Sorte Kämpfer, die die Russen auf ihrem Vormarsch aufhalten sollten.
Hunderttausende ukrainische Soldaten, denen Richard sich anschloss, waren jedoch aus dem Holz geschnitzt, aus welchem echte Krieger und Soldaten gemacht sind. Er selbst war es ebenso. Erneut stellt sich die Frage nach den Beweggründen. Kämpft ein Mann, der zum Soldaten geboren ist und dem Ruf des Krieges Folge leistet, tatsächlich für den Frieden? Verfolgt und pflegt er das gleiche Verständnis von diesem Krieg und seinen Ursachen, seinem Ausgang und seinem Ziel, wie es der durchschnittlich empörte Medienkonsument in Westeuropa tut?
Dass der Krieg also an sich unerhört sei, die Frage nach der ukrainischen Nationalverteidigung vor allem eine Frage der wirtschaftlichen Faktoren wäre oder die Ukraine den freien Westen gegen seine bösartigen Gegenspieler verteidigen würde? Kämpft ein Krieger also in erster Linie dafür, dass Frieden einkehrt und sich damit die angeblich freie Demokratie erhalten würde? Oder zieht er in den Krieg, da dieser ihm Sinn und Auftrag, Abenteuer und Selbstverwirklichung bedeutet und er im Dienst der gerechten Sache kämpfen kann?
Die Propaganda bemüht sich stets, die Moral auf einer Seite zu verorten. Und auf die Moral folgt ein Heer von Schätzern, die ungefragt alle möglichen Forderungen und Ansichten zu einer solchen Tragödie hinausposaunen müssen. Die genauen Beweggründe des freiwilligen Kämpfers, der für eine Sache in den Kampf zieht, bleiben womöglich nur ihm selbst und seinesgleichen verständlich. Menschen, die nicht zum Soldaten taugen und nichts davon verstehen, werden es wohl auch nach einer Erklärung nicht begreifen können, da sich das Verständnis hierfür schlicht ihrem Weltwahrnehmungshorizont entzieht.
Was bewegte ihn, in den Krieg zu ziehen?
Als Richard in den Krieg zog, gab es Schandmäuler, die seine Beweggründe in Nihilismus mutmaßten oder ihn für seine Entscheidung gar der Idiotie bezichtigten. Ein Nihilist würde sich niemals drei Jahre lang in den Dienst einer so aufzehrenden und opferfordernden Sache stellen. Vor allem nicht, wenn ihr Gelingen auf so tönernen Füßen steht, wie die Verteidigung eines Landes, das von einem massiv überlegenen Gegner angegriffen wird. Ein Nihilist würde nicht auf jeden persönlichen Vorteil verzichten, drei Mal vom Heimaturlaub an die Front zurückkehren und seinen Aufgaben mit der Disziplin nachkommen, die man nur zur Verwirklichung einer als tiefempfundenen gerechten Sache aufbringen kann.
Der Vorwurf der Idiotie schlägt lediglich auf diejenigen zurück, die diese einem Mann der Tat vorwerfen. Ein echter Soldat ist sich des Risikos und der Gefahren, die seine Entscheidungen und sein Handwerk mit sich bringen, vollkommen bewusst. Richard kam offenbar zu der Überzeugung, dass es sich bei dem Kampf um die Ukraine und ihr Volk um eine Sache handelt, die es wert ist, sein Leben dafür einzusetzen und es im äußersten Fall auch zu lassen.
Viele Rechte teilen diese Überzeugung mit Hinblick auf ihr eigenes Volk und ihre eigene Nation. Ist man ein blindwütiger Abenteurer, wenn man dies für eine andere Fahne tut? Zieht man dann nur in den Krieg, um ihn als „inneres Erlebnis“ zu durchlaufen und zu durchleben?
Trotz zahlreicher Auszeichnungen, beinahe drei Jahren Dienst an der Front und der offensichtlichen Begeisterung dafür, ein Soldat und Militär zu sein, spricht gegen diese eindimensionale Deutung seiner Beweggründe, dass Richard sehr wohl Pläne hatte, um in der Ukraine zu bleiben. Er wollte nach Kriegsende nicht auf das nächste Schlachtfeld ziehen, wie es ein Kriegsabenteurer tun würde, sondern bleiben und dem Land beim Wiederaufbau helfen. Als kleiner Beitrag zu diesem Wiederaufbau plante er wohl mit Kameraden die Eröffnung eines Cafes in Kiew.
Das Recht auf einen Stück Boden hätte er sich durch seine Beteiligung an den Kampfhandlungen allemal verdient. Wie bei der französischen Fremdenlegion nicht durch angestammtes, sondern durch vergossenes Blut. Ein Abschiedsschreiben seiner Liebsten, eine Ukrainerin aus der Region Kiew, kursiert im Netz und bestätigt die Haltung des Gefallenen:
„Er liebte sein Land und seine Familie, aber als der Krieg ausbrach, stand er auf, um das meinige zu verteidigen“.
Dieser Überzeugung blieb Richard auch stets treu:
„Du sagtest immer, du seist aus einem Grund hierhergekommen und dass du deine Kameraden nicht im Stich lassen kannst. Dass du hierbleiben und weiterkämpfen wirst, bis der Krieg vorbei ist.“
Die Front, die Richard Schermann selbst über drei Jahre hinweg verteidigte, wurde nun zu seinem letzten Posten. Die Ukraine verliert einen für seine herausragenden Leistungen mehrfach ausgezeichnete Soldaten und Europa einen ehrenhaften, tapferen Kämpfer.
Ewig lebt der Toten Tatenruhm
Obwohl wir uns seit Jahren nicht mehr gesehen haben und der Kontakt sich lediglich auf den digitalen Raum beschränkte, hinterlässt die Nachricht seines Todes dennoch eine eigenartige Leere. Hier fiel ein Mann, der in den Krieg zog und das Leben wählte und lebte, von dem viele Männer in wohlstandverwahrlosten Konsumgesellschaften träumen.
Die durch und durch friedliche und „zivilisierte“ Gesellschaft lässt viele junge Männer erahnen, dass sie von ihr um ihre Mann- und Heldwerdung betrogen wurden. In stillen Momenten der Langeweile träumen sie vom abenteuerlichen Leben eines Soldaten oder Legionärs aus früheren Zeiten. Die Szenarien drehen sich dabei um die Frage, wie es wohl wäre, wenn man für eine große und gerechte Sache ins Feld zieht und sogar sein eigenes Leben dafür einsetzt.
Vielen bleibt nur die Mutmaßung. Richard kannte die Antwort.
Diejenigen, die ihn kannten, haben gehofft, dass der Krieg eines Tages endet und er unbeschadet heimkehrt oder in der Ukraine seinen Frieden findet. Es sei festgehalten, dass er ihn nun gefunden hat. Was mir von ihm in Erinnerung bleibt ist das Beispiel eines gradlinigen Mannes und eines tapferen Soldaten, dessen Lebenslosung lautete: „Taten statt Worte“.
Und in dieser Erscheinung sollte er allen, die ihn gekannt haben und allen, die im Zuge des Presserummels nun von ihm gehört haben, auch in Erinnerung bleiben.
Er möge in Frieden ruhen.
„So leerten wir das Glas auf alte und ferne Freunde und auf die Länder dieser Welt. Uns alle faßt ja ein Bangen, wenn die Lüfte des Todes wehen. Dann essen und trinken wir im Sinnen, wie lange an diesen Tafeln noch der Platz für uns bereitet ist. Denn die Erde ist schön.“
Ernst Jünger, Auf den Marmorklippen