Pervers. Abstoßend. Ekelhaft. Und das ist noch das netteste, was man über “Die 120 Tage von Sodom” sagen kann. Vor allem mit dieser berüchtigten Abrechnung mit dem späten Faschismus und dem italienischen Konservatismus ist der Name von Pier Paolo Pasolini verknüpft. Der Mann war Kommunist aber gilt auch als einer der großen Regisseure des europäischen Films. Was also soll sein Werk einem Rechten bitte zu sagen haben?
Tatsächlich trieb Pasolini mehr um als linker Agitprop. Wie viele von uns heutzutage bemerkte auch er bereits einen fortschreitenden Verfall der Volkskultur und ihre Auflösung durch einen immer weiter voranschreitenden gesellschaftlichen Fortschritt und bedauerte außerdem den damit einhergehenden Verlust des Mythos und des Mythischen in der europäischen Kultur. Ein Gefühl, das wir als Rechte nur zu gut verstehen können.
Mit seinem Film Medea von 1969 schuf Pasolini einen Kunstfilm von philosophischer Tiefe und europäischem Charakter, der sich diesen Themen stellte. Dafür machte er das gleichnamige Drama des Euripides fruchtbar und stellt die in der Moderne virulent gewordene Frage nach den Folgen der Entmystifizierung der Welt und ihrem damit einhergehenden Sinnverlust. Wir erleben den Höhepunkt der Argonautensage mit der Eroberung des Goldenen Vlieses und wohnen der schicksalhaften Begegnung Jasons mit der Königstochter Medea bei.
Das Mittelmeer und ein Hauch des Archaischen
Kern des Geschehens bildet dabei die Welt des antiken Griechenlands mit ihren männlichen Heldenfiguren und städtischen Zivilisationen, welche dem mystischen Kolchis, einem wilden und archaischen Landstrich jenseits des Schwarzen Meeres, gegenübergestellt wird. Als archetypisches Gegensatzpaar stehen die Griechen für die westliche Zivilisation, Philosophie und Naturbeherrschung, während die Kolcher Tradition, mystizistische Religion und ein Leben mit dem Kreislauf der Natur verkörpern.
Cineastisch hat mich deshalb vor allem der Beginn von Medea beeindruckt. Hier lässt Pasolini nacheinander die zwei Welten, Griechenland und Kolchis, auf der Leinwand entstehen, die er im Verlauf der Geschichte miteinander kollidieren lassen wird. Und er nimmt sich für diesen Einstieg sehr viel Zeit, damit sich auch jede der beiden Welten für den Zuschauer entfalten kann. Zugegeben das kann gerade bei modernen Sehgewohnheiten abschreckend wirken, aber Medea ist auch kein Popcorn-Movie, der zur Abendberieselung taugt, sondern ein Film der bewusst gesehen werden will.
Wenn man sich auf diesen Anfang einlässt, bekommt man hier zwei cineastische Höhepunkte geboten, die im Vergleich zu unserem zeitgenössischen Kino herrlich anders und experimentell sind und den Zuschauer auch ernst nehmen.
Die ausgewählten Drehorte rund um das Mittelmeer vermitteln mit ihren historischen Schauplätzen und beeindruckenden Landschaftspanoramen ein Gefühl für die Schönheit des Mediterraneums. Die Höhlenstädte Kappadokiens im Zusammenspiel mit der mediterranen Natur erwecken ein Gefühl für das Archaische und eine von der Moderne unberührte sonnenbeschienene alte Welt. Pasolini gelingt es, uns mit einfachen Mitteln und passender klanglicher Untermalung in die Antike eintauchen zu lassen. Das Hauptthema des Films, das von Santur-Klängen getragen wird, erzeugt eine mystische, unweltliche Stimmung, als würden wir wirklich einer Geschichte aus alter Zeit beiwohnen.
Griechenland: Horizont von 2000 Jahren Philosophie
Griechenland begegnet uns zunächst in der Person des noch kindlichen Jason und dem Zentauren Chiron, seinem Lehrer. In Form eines ausgedehnten Lehrmonologs erklärt der Pferdemensch die religiös-historisch-dynastischen Zusammenhänge, die für Jasons Leben von Bedeutung sein werden, und verweist bereits auf die Queste nach dem Goldenen Vlies, die sein Schicksal sein wird. Danach entwirft er zunächst ein Bild der Welt, das von einer Beseelung der Natur vom Göttlichen und Heiligen geprägt ist, während der junge Jason sichtbar heranreift.
Während der Zeitsprünge, die das Aufwachsen des Kindes anzeigen, entwickelt und verändert sich zugleich Chirons Philosophie: Die Beseelung der erfahrbaren Natur wird durch eine abstrakte Göttlichkeit abgelöst, die Naturphänomene werden zunehmend rational erfassbar, bis es schließlich gar keinen Gott und damit auch keine Wiederkehr der Dinge mehr gibt. Jason ist zum Mann geworden.
Symbolisch legt er damit den mystisch-verschleierten Blick des Kindes ab, die Natur verliert ihre Heiligkeit und selbst der Zentaure, eine Sagengestalt, wird zum profanen Menschen. Symbolisch wird hier die Entwicklung der abendländischen Zivilisation angedeutet, die archetypisch einem linearen Weltmodell unterliegt, wobei uns ein strenger Rationalismus als vorläufiger Endzustand begegnet. Es drängt sich die Frage auf, ob unser Verständnis und unsere Beherrschung der Natur letztlich zu einem Punkt geführt hat, an dem wir zugleich den Sinn, etwa einer göttlichen Ordnung, aus der Natur ausgetrieben haben. Die Erinnerung Jasons an den Zentauren Chiron zeigt aber deutlich, dass das Mythische noch in uns verborgen liegt.
Die Umfassenheit des Monologs, mit dem Chiron ansetzt, die ganze Welt logisch zu durchdringen, steht im Kontrast zu der Gemütlichkeit, Abgeschiedenheit und Ruhe des Hofes und der vom Meer umschlossenen kleinen Insel, auf der wir uns befinden. Es ist eine kleine, abgeschlossene Welt, die in mir ein wohliges Gefühl der Geborgenheit beim Lauschen von Chirons Worten auslöst. Jenseits von ihr locken jedoch die Weite des Meeres, des Horizonts und des Himmels und deuten auf die Abenteuer hin, die noch vor uns liegen.
Kolchis: Kultgemeinschaft und Menschenopfer
Gänzlich anders erfolgt die Darstellung von Kolchis, der Heimat der namensgebenden Priesterin Medea. In totaler Abgrenzung zur abstrakt-rationalen Welt der Griechen wird hier kein Wort gesprochen. Die Handlung und das Kultische stehen stattdessen im Vordergrund. Ohne Einordnung bleibt vieles unserem eigenen Verständnis überlassen. Der Zuschauer wird in der Anmutung ethnologischer Dokumentaraufnahmen Zeuge eines ausgiebig zelebrierten Opfer- und Fruchtbarkeitsrituals.
Das Alltagsleben wird unterbrochen. Das gesamte Volk, vom Bauern bis hin zur Königsfamilie, versammelt sich gemeinsam, um das Ritual als Grundlage der eigenen Gemeinschaft zu begehen. Statt abgeschieden in einem Heiligtum von einer Elite wird der Kultdienst hier vor und mit der versammelten Gemeinde unter freiem Himmel begangen.
Das Bewusstsein der Kolcher spielt sich in einem Kosmos ab, der eng mit der Natur und dem Heiligen verflochten ist. Statt Linearität finden wir ein Weltbild vor, das vom Kreislauf bestimmt ist. In einer intensiven Szene erleben wir den Höhepunkt des Rituals: ein Menschenopfer mit der anschließenden Fruchtbarmachung der Felder mit dessen Blut. Die Lebenskraft eines Menschen, eines Teils der Gemeinschaft, wird gegeben, um die Erneuerung des Lebens und der Fruchtbarkeit der Natur rituell sicherzustellen.
Wunderschönes Kappadokien
Im Zentrum steht im Gegensatz zu den Griechen also nicht die Figur des Lehrers in der intimen Beziehung mit seinem Schüler, dem zukünftigen Helden, sondern der Priester, um den sich das Volk versammelt, um sich im gemeinsamen Ritual über sich selbst und seine Daseinsgrundlage zu versichern.
Genial war die Wahl Kappadokiens mit seinen berühmten Höhlenstädten als Drehort für Kolchis. Es ist wirklich eine wunderschöne, elysische Landschaft, wie eine Schäferidylle mit den weißen Felsen und sanften Hügeln und schroffen Felsnadeln inmitten sonnenbeschienenen Grases. Die Höhlenöffnungen der menschlichen Siedlung, die Äcker und die Natur verschmelzen zu einer organischen Einheit. Dies ist ein Ort der Gelassenheit und Naturnähe, der zugleich etwas Unberührtes und Archaisches atmet und damit perfekt zum Bild von Kolchis als urtümlicher menschlicher Gemeinschaft passt.
Konflikt der Kulturen
Kaum ist das Ritual der Kolcher vollendet, wird ihre Welt jedoch vom Überfall der Griechen, ein symbolisch jäher Einbruch der Zivilisation (Pasolini erweist sich hier als Kritiker des Kolonialismus), erschüttert. Um seinen Anspruch auf den Thron von Iolkos durchzusetzen, ist Jason im Auftrag seines Onkels Pelias gekommen, um das goldene Vlies, das von Kolchis‘ Königshaus verwahrt wird, zu rauben.
Es befindet sich in der Obhut der Königstochter Medea, welche zugleich eine angesehene zauberkundige Priesterin ist. Für diese Rolle konnte Pasolini die berühmte Operndiva Maria Callas verpflichten. Diese verkörperte die Zauberin bereits auf der Bühne und verleiht der Figur gerade in den späten Szenen einen intensiven Furor. Die Callas hatte zum Filmdreh zwar nicht mehr die für Medea passende Jugendlichkeit, die Darstellung der rachsüchtigen Ehefrau und Mutter profitiert aber deutlich von der Reife der Schauspielerin.
Während die Gegenüberstellung von Kolchis und Griechenland primär der Konflikt zweier Weltverständnisse ist, verweist die Dynamik zwischen Jason und Medea darüber hinaus auf ein Thema, das für Pasolini noch nicht zentral, für unsere von Migration erschütterte Welt jedoch umso aktueller ist: die Erfahrung von Entwurzelung, Entfremdung und die Frage nach den Möglichkeiten der Integration. Denn die Argonauten erbeuten nicht nur das Goldene Vlies. Auch Medea, die sich in Jason verliebt und den Tod ihres Bruders bei der gemeinsamen Flucht verschuldet hat, schließt sich den Griechen an. Sie und Jason werden während der Rückreise ein Paar und bekommen zwei Söhne.
Hier liegt die größte Schwäche des Films. Er spart nicht nur diesen Umstand aus, sondern verdichtet die Geschehnisse generell stark und arbeitet mit vielen Zeitsprüngen. Einem Zuschauer ohne Vorkenntnis des Sagenstoffes erschwert dies der Handlung zu folgen. In Vorbereitung auf den Film sollte man daher noch einen Blick in Gustav Schwabs “Sagen des klassischen Altertums” und insbesondere die Argonautensage wagen.
Selbstentfremdung und Identitätsverlust
Jasons Rückkehr von seinem erfolgreichen Abenteuer nach Iolkos verläuft alles andere als glücklich: Pelias fühlt sich an sein Versprechen, Jason den Thron zu überlassen, nicht gebunden, stattdessen hoffte er, dass der Held beim Versuch umkommen würde. Medea und er sind gezwungen, Iolkos zu verlassen und ins Exil nach Korinth zu gehen. Medea wird ihres Priesterinnenornats und damit symbolisch ihres Status und ihrer Identität entkleidet.
Die hohe Stellung, die sie im Kontext des mystischen Weltverständnisses von Kolchis genoss, ist in der griechischen Fremde nichts mehr wert. Zugleich ist sie in eine Welt geworfen, die sie nicht versteht. Der Versuch, sich an das Leben in einer neuen Heimat anzupassen und ihre Götter (und damit ihr Weltverständnis) zu vergessen, hinterlässt sie als entwurzelte Figur. Aus Liebe zu Jason ist sie allerdings bereit, dieses Schicksal zu ertragen.
Doch Jason und seine Familie geraten in eine politisch prekäre Situation. Er hofft daher, durch eine Vernunftehe mit Kreusa, der Tochter des korinthischen Königs Kreon, seine soziale und dynastische Stellung und die seiner Söhne abzusichern. Medea würde jedoch zur Mätresse degradiert. Es handelt sich dabei um einen Kompromiss, der in der rationalen Denkweise Jasons notwendig ist, welcher in Medeas Augen jedoch eine Verletzung heiliger Prinzipien darstellt. Zugleich wird die Kolcherin für ihre Zauberkräfte und Fremdartigkeit gefürchtet und von Kreon abgelehnt. Eine Sorge, die sich als nicht unbegründet erweist.
Multikulti als Urgrund der Tragödie
Medea ist vor diesem Hintergrund ein inhärent rechter Film. Auch wenn in uns, wie in Jason, der Keim des Mythischen immer noch präsent und nur verschüttet ist, so können wir nicht einfach von jetzt auf gleich die Technik über Bord werfen und zum Mythos zurückkehren. Mit dem Scheitern von Integration und Assimilation vor dem Hintergrund unvereinbarer Gegensätze verwirft Pasolini außerdem die naive Idee einer gegenseitigen fruchtbaren Bereicherung, die moderne linke Filmemacher in den Stoff hineingelegt hätten… oder manch ein Rechter, der von konservativen Bündnissen mit dem Islam träumt.
Die Inkompatibilität der beiden Kulturen auf der metaphysischen, wie auch der persönlichen Ebene läutet letztlich die Tragödie ein. An der fremdartigen griechischen Kultur und deren Prinzipien zerbrochen und von ihrem Mann entfremdet, wendet sich Medea schließlich wieder den Göttern ihrer Heimat zu. Erst hier findet sie wieder Selbstgewissheit. Der zur Rache eskalierende Konflikt mit Jason zerstört seine Familie, sowie das Königshaus von Korinth. Den Zuschauer entlässt der Film nicht nur mit philosophischen Fragen, sondern auch mit einer eindringlichen Warnung davor, ein Aufeinandertreffen zweier so unterschiedlicher Kulturen zu einem romantischen Abenteuer zu verklären.