Wissen Sie, was mir wirklich meine Nerven raubt?
Das Gejammer.
Die zur Larmoyanz übersteigerte Nostalgie, die sich in den Gesprächen mit Mittdreißigern – ich entblöße mich – Männern unserer weltanschaulichen Sphäre nur allzuschnell bahnbricht. Man kommentiert vermeintlich Triviales: den kuriosen First eines Hausdaches, welcher sich in einer der Norm abweichenden Neigung flach winkelt, oder man bemerkt verschmitzt die kuriose Häufung von Warnschildern an einer Brücke, die neben der Baufälligkeit auch noch diverse Verbote verkünden und auf zu schützendes Viehzeug hinweisen. Dinge, die einem bei einer Wanderung oder einem Spaziergang mitunter gewahr werden können.
Da geschieht es: Der Blick des Gesprächspartners wird leicht glasig, schweift auf mittlerer Höhe in die Ferne, die Lider sinken herab, seine Stimme bekommt eine seufzende Note und er sagt Dinge wie:
„Ach ja, das sind die Zeichen der Zeit…“ „Früher war einfach eine andere Substanz in den Menschen…“ „Zeichen des Niedergangs und der Bevormundung…“
Man kann das unsägliche „Stilmittel“ der drei Auslassungspunkte, die verkitschte Bedeutungsschwere der Menschen, beinahe hören. Ja meinetwegen, du Jammerlappen, das ist mir auch klar! Wir sind nicht umsonst gute Freunde, wir haben alle Bedenken über die Zukunft für unsere Familien bereits hinlänglich geteilt.
Wieso lassen wir zu, dass diese aus überspannten Nerven geborene Düsternis in unsere friedliche Eintracht dringt, die gezielt dem Erhalt der eigenen guten Geister wegen geschaffen wurde?
Widerstand statt Resignation
Fristet man ein mitunter seelenzerfressendes Arbeitsleben wie ich und etliche andere rechte Vagabunden, dann stiert man alltäglich auf einen oder mehrere Bildschirme und wird unfreiwillig vom Feed der Browserempfehlungen abgelenkt. Als Neuigkeiten oder Nachrichten getarnte Beeinflussungen überschwemmen den Äther und an irgendeinem klebrigen Aufreger bleibt man schlussendlich hängen.
Erstaunlich oft wird psychologisiert, ja die Psychologie oder das, was dafür gehalten wird, ist DIE modische Brille schlechthin, durch welche der Mensch vermessen wird. Selbstverständlich ist alles pathologisch, die Jugend, die Eltern, die alleinerziehenden Putzkräfte usw. – jeder leidet und natürlich ist „die Gesellschaft“ die Geißel „unserer“ geistigen Gesundheit. Folglich dreht sich viel um ein Wort, welches der geneigte Leser sicherlich schon nicht mehr lesen möchte: Resilienz.
Lassen wir zunächst die vom Zeitgeist gekaperte Formulierung hinter uns und nutzen das schöne deutsche Wort „Widerstandsfähigkeit“. Die Revolte gegen die moderne Welt wird in der Alltagspraxis zum Widerstand gegen die kleinen und großen Zumutungen; da wo die Flut der Revolte wegen der Herausforderung des Lebens selbst zum Bach gerinnt, ist es zumindest der Widerstand, der uns bleibt.
Was defätistisch klingt, ist für viele von uns alles, was man geben kann und das ist nicht zu verurteilen – es ist aber auch das mindeste. Wie sind die Prüfungen unserer Zeit zu meistern, wie soll es gelingen, bei all der Unbill, die uns selbst, unserer Nation und allen freien Gesellschaften widerfährt, nicht zu verzweifeln und zu resignieren, nicht in die Düsternis zu gleiten, kurz: Widerstandfähigkeit zu entwickeln und durchzuhalten?
Freundschaft, Liebe, Familie
Wie auch immer Sie Ihren Weg beschreiten, Sie benötigen dafür Rüstzeug. Dies ist die Bedingung der Möglichkeiten und gleichzeitig das Ziel eines freien und sinnerfüllten Lebens. In ihrer spezifischen, kulturgebundenen Weise so elementar, dass wir sie als natürlich erachten: Freundschaft, Liebe, Familie
Die Trinitas aus guten Freunden, einer liebevollen Frau und aus dieser Verbindung entstehend eine Familie ist, wie auch in der christlichen Gottesvorstellung, eins in Vielheit. Sie stabilisiert, ermöglicht uns, bedeutende Entscheidungen zu treffen und wertvolle Leben zu führen. Wohl dem, der diese Dinge sein Eigen nennen darf, ihm ist nachzueifern.
Ein weiteres Schlagwort: Diversität.
Nein, nicht was Sie denken, lieber Leser. Aber tatsächlich ist es so, dass wir, blicke ich auf meinen festen und ewigen Freundeskreis – die Menschen die zählen – immerhin noch so unterschiedlich sind, dass wir uns ideell befruchten. Mitunter zerren die Fliehkräfte des Lebens wie auch die Strata unserer persönlichen Dissidenz an unserer Gemeinschaft – ohne diese je zu erodieren. Jedoch bedarf es Ankerpunkten im Lebensfluss, um sich und die anderen daran zu erinnern, wofür man eigentlich lebt – abseits seiner Verpflichtungen.
Feste mit Seele machen Seelen fester
Allein: diese Dinge hat man in seinem Leben nicht einfach so, sie werden erworben und bedürfen Pflege und Hingabe. Mein Großvater sprach in diesem Zusammenhang von einem Baum, der gegossen werden will und Schnitt benötigt, erst dann trägt er Früchte. In der menschlichen Welt und damit beginnen wir den Kreis langsam zu schließen, müssen wir wieder einen Begriff von Schutt befreien, den die Dekonstruktivisten auf Ihm verladen haben. Das Ritual.
Damit, wie obig angesprochen, unsere Gemeinschaft von freien Freunden nie auseinander treibt, haben wir eigene Feste aus der Taufe gehoben. Weder sind sie wirklich innovativ – schließlich bedeutet uns die Welt, dass eben nicht alles anders werden möge – noch sind sie einzigartig.
Im Sommer feiern wir ein Sommerfest der Freundschaft
Monate vorher treffe ich mich mit meinem guten Freund Sven* um Bier zu brauen. Ein Heidenspaß! Wir bestellen Malz und mittlerweile ist unsere Brauanlage über das Einsteigerlevel hinaus schon ansehnlich gewachsen, noch keine Edelstahlpötte usw. aber es kann sich sehen lassen. Zur Erinnerung daran, wie das Produkt letztendlich schmecken soll, verköstigen wir einige ausgesuchte Biere und machen eine Brotzeit dazu. Abgefüllt wird in extra gekauften Flaschen, ein anderer Freund erstellt Etiketten.
Etwas später im Jahr kommt einer von uns auf die Idee, selbst Würste herzustellen. Was wie eine grandiose Idee klingt, wird eine riesige Schweinerei(!), die Küche klebt vor Fett, mit Schweiß Schwein und Irish Folk stoßen wir aber schlussendlich auf einen Berg Wursterzeugnisse an.
Seine Frau ist über den Zustand der Kochstation mäßig begeistert, sie ist aber auch diejenige, die mit anderen Frauen des Kreises Blumenschmuck anfertigt. Ursprünglich hatte ich ein paar Girlanden und Lichterketten gekauft, aber alsbald nahm Josephine* die Sache selbst in die Hand – sie sorgt dafür, dass alles am Ende so aussieht, wie es aussehen soll.
Bei Thomas* im großen Garten, wo das Ganze stattfindet, bauen wir eine Messerwurfscheibe – Frauen sind wieder nicht begeistert – sammeln Dosen für Dosenwerfen für die Kinder, buddeln ein Loch für eine neue Fahnenstange, schließlich muss neben der Nationalflagge auch noch die neu erworbene Regionalflagge wehen. Max* sorgt sich um Musik, er hat ein Sammelsurium an Instrumenten da, außerdem Verstärker, Mikrofone und so fort, ich kann es kaum erwarten leicht angetaucht irgendeinen Song aus der Jugend zu singen.
Das klingt für den ein oder anderen kitschig, aber ich versichere: das ist es mitnichten. Es kommen mittlerweile ca. 30-40 Leute; auch unsere Eltern schauen vorbei und freuen sich, „dass mal wieder was passiert“. Letztes Jahr gab der Scherzbold der Runde als Schweinrich Schweine (mit Karnevalsschweinsnase) passend zum Spanferkel, welches neben ihm über der Feuergrube brutzelte, eine (möglicherweise nicht ganz öffentlichkeitstaugliche) Interpretation von Deutschland. Ein Wintermärchen zum Besten.
In der Adventszeit gibt es ein Weihnachtsfest
Wieder bei Sven, deren Haus liegt nun mal zentral. So ist sichergestellt, dass alle auch anreisen, denn dieses etwas kleinere Fest bringt den Weihnachtszauber zurück und ist jedem heilig geworden. Bereits zwei Tage vorher stehen wir in der Küche und bereiten ein Menü zu, welches sich an allen Regionen Deutschlands eine Entlehnung sucht. So gibt es Grüne Soße aus Frankfurt, Nürnberger Würstchen, Obazda aus Bayern, Königsberger Klopse und noch viel, viel mehr.
Einleitung findet das Fest durch eine Rede, in welcher Sven den Verlust eines Cousins eines Anwesenden betrauert, der Geburt eines neuen Kindes freudig Hurra zollt, die Bedeutung unserer Zusammenkunft hervorhebt. Wir stoßen vor jedem Gang an: Alex* hat ein Faible für Wein und so wird auch immer brav das Glas mit Wasser ausgespült, bevor eine weitere Flasche dekantiert wird, die stets eine kleine Einleitung bekommt.
Die Kinder sind heute bei den Großeltern, heute sind es nur wir, die nach dem Essen gemeinsam Weihnachts- und andere Lieder singen, Rum trinken und um den Weihnachtsbaum sind.
Das Ganze kostet neben den Herausforderungen des Alltags viel Zeit aber ist jedes Mal so schön, dass man sich im Anschluss seiner selbst, seinen Lieben und dem Leben wieder versicherter fühlt.
Soweit ein Einblick in das Leben des Autors, aber sehen wir nach: Was sind das für Feste? Es sind Ausläufer und Nachahmungen von in der größeren Volksgemeinschaft existenten, kulturell transferierten Ritualen, um genau diese Wirkung zu erzielen: Stärkung der Gemeinschaft, der Verbundenheit.
Schlusswort
Freilich begehen die Deutschen Weihnachten, das haben wir nicht erfunden. Natürlich gibt es nach wie vor Schützenfeste, im ländlichen Raum kuriose Pfingstbräuche und vieles mehr. Die Lust an Feierlichkeiten ist scheinbar nicht bedroht und im privaten Raum ist die kleine Schau in das Leben des Verfassers auch sicherlich kein singuläres Ereignis. Aber ich befürchte, dass zu viele meiner Landsmänner einsam sind.
Aus dem größeren Kollektiv, der deutschen Kulturgemeinschaft, sind diese Rituale der Verbrüderung, der Transzendierung des Alltäglichen ins bedeutungsvoll Festliche, entweder ins Abgeschmackte geglitten, wo nur noch sinnbefreit gesoffen wird und der Ballermann aus den Boxen dröhnt, oder sie sind schlichtweg verschwunden.
Dabei ist das Ritual, die Konsumtion der Stränge unserer Begehren in festlichem Akt, wie der Heirat, die liebevolle Vereinigung mit der Frau unter dem Sternenzelt, von Bier und Bratenduft begleitetes Familien- und Freundesfest, Weihnachten und Osterbrunch, das Orgelspiel mit Käse und Rotwein usw. usw. der Anker, der uns in einer diffusen Welt am Boden hält.
Feiern Sie Feste, die es wert sind zu feiern. Messen Sie den ritualisierten Verbindungen mit Ihren Lieben die höchste Bedeutung zu. Seien Sie ein Vorbild für die, die inner- und außerhalb Ihres Kreises stehen. Seien Sie der Baumeister dessen, wofür es sich zu leben lohnt. Vielleicht wird dann aus vielen kleinen Gemeinschaften wieder eine große Volksgemeinschaft.
*Namen geändert