Allerseelen ist als Musikprojekt fernab des Mainstreams geradezu eine Legende. Musikalisch im Ritual Industrial verwurzelt, hat man einen eigenen, vielseitig schillernden Stil gefunden, der immer wieder neue Elemente zuläßt und sich gleichzeitig treu bleibt. Doch neben der Musik hat auch das wache Auge moderner Hexenjäger Allerseelen einige Aufmerksamkeit beschert. Das neue Album „Toteninsel“ nehmen wir zum Anlaß, Mastermind Gerhard Hallstatt einige Fragen zu stellen.
Gerhard, beginnen wir doch gleich mit dem aktuellen Anlaß für dieses Interview, Deinem neuen Album „Toteninsel“. Was erwartet den Hörer?
Die neue Allerseelen-CD „Toteninsel“ ist unter anderem beeinflußt von dem berühmten Gemälde von Arnold Böcklin. Dabei hat mich allerdings nicht nur Böcklin als Maler fasziniert, sondern auch Böcklin als Flugpionier. Ich war sehr überrascht, als ich vor einigen Jahren herausgefunden habe, daß er in Berlin und Rom auch Flugversuche unternommen hat mit selbstgebauten Maschinen.
Mich faszinieren ja Visionäre, unabhängig davon, ob sie letzten Endes erfolgreich sind oder scheitern. Mich beeindruckt an ihnen das oft Magische und das manchmal Tragische. Von Allerseelen gab es auch schon in der Vergangenheit einige Lieder zum Thema Ikarus, ein Held, der zu sehr in die Sonne verliebt war, der zu hoch hinaus wollte. Böcklin allerdings gelang es, seine Versuche ohne gröbere Verletzungen zu überstehen.
Musikalisch ist die Tonkunst von Allerseelen wie immer sehr schwer zu beschreiben – nicht nur jede Veröffentlichung, auch jedes einzelne Lied ist im Grunde eine eigene Welt. Da gibt es keine Schublade, in die Allerseelen passen würde, und das ist gut so. Ein anderer wichtiger Einfluß für diese CD ist auch „Das Siebente Siegel“ von Ingmar Bergman. So haben wir im Lied „Antonius Block“ – der Name jenes Ritters, der mit dem Tod Schach spielt – auch die Geräusche der Schachfiguren aus dem Film als Rhythmus-Element eingebaut.
Die Toteninsel bezieht sich aber auch auf tatsächlich existierende Inseln – auf San Michele bei Venedig, wo Ezra Pound begraben ist, und auf eine kleine Insel bei Korfu. Das Beiheft zur CD enthält alle Texte, und wir haben auch Photos verwendet, die ich auf einem sehr beeindruckenden Waldfriedhof in Bruneck in Südtirol für gefallene Soldaten gemacht habe. Das Coverbild selbst zeigt ein Grabmal auf einem Friedhof in Moskau. Dieses Zitat von Nicolás Gómez Dávila war uns so wichtig, daß wir es im Beiheft der CD verewigt haben: „Kultur hat jener Mensch, bei dem der Lärm der Lebenden nicht das Raunen der Toten verdrängt.“
Da vermutlich nur ein Bruchteil unserer Leser mit Deinem Schaffen vertraut ist – wie würdest Du den Stil von Allerseelen beschreiben?
Musik im Allgemeinen ist immer eine „Terra Incognita“ (wie auch eine CD von Allerseelen heißt); sie zu beschreiben ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Und das gilt auch für die Musik von Allerseelen. Weil unser Stil in kein Genre wirklich paßt, jedoch immer wieder auch Elemente aus dem Industrial, aus dem Metal, aus dem Neofolk und manchmal auch Krautrock enthält, werden wir genau aus diesem Grund auch immer wieder zu ganz unterschiedlichen Festivals eingeladen. Allerseelen erscheint da wie eine Brücke zwischen verschiedenen Musikstilen.
Unsere Musik könnte man als abendländischen Symbolismus bezeichnen, um einen neuen Begriff zu prägen, um eine neue Schublade zu öffnen. Genau in diesem Kraftfeld finden sich unsere Einflüsse: Das Abendland zwischen Portugal und Rußland in der Vergangenheit, in der Gegenwart, in der Zukunft – und die farbenprächtige, geheimnisvolle Kunst der Präraffaeliten und Symbolisten mit ihren Motiven aus der christlichen und heidnischen Antike und Renaissance. Für die Neofolk-Welt sind wir eigentlich zu elektronisch und zu hart, für den Industrial-Bereich und die Metal-Welt aber zu weich.
Viele Lieder von Allerseelen enthalten immer wieder experimentelle Elemente, das Knistern von Flammen, das Knistern von Vinyl und Dutzende andere Klänge: Für uns sind Geräusche Symbole, die wir gerne verwenden. Wir spielen mit Sinnbildern und manchmal auch mit dem Feuer, wenn sich zum Beispiel ein bestimmtes Lied oder ein bestimmter Tonträger mit einem nicht politisch korrekten Thema beschäftigen, wie beispielsweise auf der CD und DoLP „Neuschwabenland“. Dann geschieht es manchmal auch, daß die Symbole und das Feuer mit uns selbst spielen. Wer sich aber einen Eindruck über die Atmosphäre und Aura von Allerseelen verschaffen möchte, sollte dies am besten auf unserer Bandcamp-Seite tun. Auch auf YouTube ist einiges zu finden.
Unter den Texten sind, wie gewohnt, eigene Schöpfungen und Vertonungen der Lyrik anderer, diesmal unter anderem von Georg Trakl, Ludwig Uhland und Friedrich Nietzsche. Wie suchst oder findest Du Deine Texte?
Ich schreibe und lese gerne, am liebsten irgendwo unter freiem Himmel. Manchmal beeindrucken mich dann bestimmte Gedichte oder einzelne Stellen in einem Roman so sehr, daß ich sie unbedingt vertonen möchte. Dafür schreibe ich dann ein eigenes Lied oder suche auch im Klangarchiv von Allerseelen nach bereits halbfertigen Liedern oder begonnenen Strukturen, die thematisch passen könnten. Wie in einem Mosaik fügen sich dann oft auf rätselhafte, manchmal auch eigentümlich dämonische Weise Elemente aus Dichtung und Musik ineinander. Die Entstehung unserer Musik ist oft wie eine Art Alchemie, ein immerwährendes Suchen und Finden und manchmal auch wieder Verlieren in einer Klangwerkstatt, ein Spiel aus Lust und Verlust.
Im Grunde ist unsere musikalische Arbeit eine Art Odyssee in einem immer umfangreicher und auch unübersichtlicher werdenden Labyrinth aus Klängen. Darin, im unsichtbaren Reich der Musik, verirren wir uns oft für Stunden oder Tage – bis uns dann ein fast fertiges Lied der Ariadnefaden ist, der uns wieder ans Tageslicht bringt. Auf jeden Fall ist die Musik ein geistiges Abenteuer, weil ich zwar in der Schule gelernt habe, Noten zu lesen, das aber vor langer Zeit wieder vergessen habe. Unsere Geräusche und Klänge bewegen sich allerdings ohnehin sehr häufig zwischen den Tönen und zwischen den Zeilen einer nicht existierenden Partitur.
Wie auf den meisten Deiner Alben hast Du wieder eine ganze Reihe von Gastmusikern verpflichten können. Erzähle doch bitte etwas über diese Kooperationen!
Seit einigen Jahren besitzt Allerseelen einen harten Kern aus Marcel P. (Bass), Christien H. (Schlagzeug), AimA (Gesang bei vielen Liedern) und mir. Aber wir laden für einzelne Lieder gern auch befreundete Musiker ein, wenn wir zum Beispiel E-Gitarre (Daniel von Arnica, John Haughm von Agalloch) oder Violine (Cisfinitum aus Moskau) oder auch andere Instrumente für einzelne Lieder verwenden wollen. Immer wieder haben wir auch Gastsänger (in der Vergangenheit auch Josef Klumb von Von Thronstahl). Durch die Arbeit mit Allerseelen und die vielen Auftritte in verschiedenen Ländern ergeben sich immer wieder Ideen für gemeinsame Lieder. Ein Freund von mir aus Genua, Stefano Bertoli, hat für die „Toteninsel“-CD auch für zwei Lieder – „Staubdämonen“ und „Styx“ – Taiko und Theremin aufgenommen.
Mittlerweile ist es zu einer Allerseelen-Tradition geworden, Musikstücke und auch Texte, welche bereits auf vergangenen Alben Verwendung fanden, in neuen Variationen wieder zu veröffentlichen – und auch „Toteninsel“ macht diesbezüglich keine Ausnahme …
Es gibt bei Allerseelen musikalische und poetische Leitmotive, die immer wieder in Erscheinung treten. Das ist ein roter Faden, der sich durch alle Tonträger zieht. Im Grunde denke ich in Jahrzehnten. Ich höre nicht sehr oft die früheren Werke von Allerseelen – es erscheint mir ein bißchen wie ein Blättern in alten Tagebüchern oder Traumtagebüchern: Es ist gut, daß es sie gibt, aber ich möchte keineswegs täglich darin lesen. Manchmal aber höre ich ein älteres Lied von Allerseelen und denke mir, daß ich heute dieses oder jenes Element weglassen oder verändern würde oder gern auch etwas Neues, ganz Anderes hinzufügen möchte. Aus dieser Unzufriedenheit heraus entsteht dann oft das Verlangen nach einer neuen Fassung, einem Remix oder einer Coverversion – oder auch etwas ganz Eigenes, ganz Neues. Von manchen Liedern wie „Flamme“ oder „Ikarus“ gibt es drei oder mehr verschiedene Versionen.
Manche Lieder gibt es auch in mehreren Sprachen. Es gibt auf den CDs „Toteninsel“ und „Chairete Daimones“ auch lateinische und altgriechische Lieder. Nur Englisch ist im Liedgut von Allerseelen sehr selten; diese Sprache versuche ich eher zu vermeiden, weil sie gar so allgegenwärtig ist im Mainstream – und auch, weil das Dichten in ihr viel einfacher ist als zum Beispiel auf Deutsch. Manchmal verwende ich auch gerne meinen oberösterreichischen Dialekt. Es gibt in der Musik, in der gesamten Kunst eine recht starke Eigendynamik, auf die wir als Künstler nicht immer einen Einfluß haben – auch wenn wir es uns einbilden.
Ich habe zum Beispiel die Idee für eine ganze CD zum Thema Ikarus – ob die allerdings eines Tages tatsächlich fertig sein wird, liegt aber nicht nur an meinen Mitmusikern und mir. Das liegt tatsächlich ein bißchen in den Sternen. Da scheinen auch andere Kräfte tätig zu sein, deren Wirkungsweise mir nachwievor sehr rätselhaft ist und wohl immer ein Geheimnis bleiben wird. Gerade dadurch aber bleibt das künstlerische Werk spannend und unberechenbar. Johann Wolfgang von Goethe verwendete in dem Zusammenhang mit den geheimnisvollen Kräften oft das Wort „dämonisch“, und ich denke, daß er damit recht hat.
Allerseelen wurde bereits 1987 ins Leben gerufen, sieht also auf eine etwas längere Geschichte zurück. Welches von den zahlreichen Vorgängeralben gefällt Dir rückblickend am besten, welches am wenigsten? Und wieso?
Es gibt zwei CDs, die mir etwas weniger gefallen, aber ich möchte nicht verraten, welche das sind. Jedenfalls liegt mir am Herzen, daß alles, was mir auch nach Jahren oder Jahrzehnten im eigenen Werk noch gefällt, immer wieder neu aufgelegt wird und erhältlich ist. Ich bin auch froh, daß wir in all den Jahren nicht mit Dutzenden Labels zusammengearbeitet haben, sondern nur mit zwei oder drei. Das macht unser Werk, unseren Katalog, um einen sehr industriellen Begriff zu verwenden, relativ übersichtlich.
Ich mag auch die frühen Kassetten von Allerseelen immer noch sehr, die wirklich auf sehr archaische Weise entstanden sind: Ich hatte drei Kassettenrekorder, mit zwei wurde abgespielt, mit dem dritten aufgenommen. Auf eine seltsame Weise sind diese Aufnahmen sehr zeitlos – daher wurden auch sie auf CD oder auch auf Kassette wiederveröffentlicht. Manches würde ich heute ganz anders aufnehmen, aber gerade dieser Gedanke, dieser Wunsch hat ja dazu geführt, daß es von manchen Liedern immer wieder neue Fassungen gibt. „Ein aus sich rollendes Rad“, so nennt es Friedrich Nietzsche in seinem „Also sprach Zarathustra“. Aus seiner Komposition „Heldenklage“ haben wir auf der CD „Toteninsel“ einige Sekunden verwendet – zu Beginn unserer Version von „Ich hatt einen Kameraden“.
Welche Musik hörst Du eigentlich „privat“?
Einige meiner Lieblings-CDs sind von A Filetta aus Korsika, von Dordeduh aus Rumänien, von Nokturnal Mortum aus der Ukraine, von Tethrippon aus Griechenland. Von deutschen Projekten gefallen mir eigentlich Orplid am besten. Neofolk oder Industrial höre ich eigentlich sehr selten, der Neofolk ist mir zu weich und zu einfach gestrickt, und es gibt zu viele Projekte, die sich gegenseitig imitieren. Im Industrial ist mir vieles zu monoton, zu brachial. Ich habe auch eine recht umfangreiche Sammlung an klassischer Musik. Eine Inspiration für die CD „Toteninsel“ war ja auch die gleichnamige Komposition von Sergei Rachmaninow. Dmitri Schostakowitsch mag ich auch sehr, weil er sehr oft Perkussion verwendet.
Hier geht es zur Fortsetzung des Interviews!
Links zu Allerseelen:
http://allerseelen.bandcamp.com/music
https://retortae.bandcamp.com/music