Nosferatu ist ein Meilenstein des deutschen Vorkriegsfilms, als dieser noch innovativ, künstlerisch anspruchsvoll und in der Welt bedeutend war. Als wir zu Halloween unseren Thymos-Cast zu Vampirfilmen und Dracula-Interpretationen hatten, gehörten der (Ur-)Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (1922) und dessen Neuverfilmung mit Klaus Kinski Nosferatu – Phantom der Nacht (1979) als Blutsauger selbstverständlich zu den Klassikern, die wir angesehen und besprochen haben. Eine weitere Neuinterpretation mit einem vielversprechenden Trailer warf da ihre düsteren Schatten allerdings bereits voraus:
Der us-amerikanische Regisseur Robert Eggers, dessen Film The Northman (2022) bereits positiv in rechten Kreisen rezipiert worden war, präsentiert uns nun mit Nosferatu – Der Untote eine zeitgenössische, erschreckende Version des Filmklassikers. Als alter Vampir- und Horrorfan konnte ich mir das natürlich nicht entgehen lassen, vor allem da zugegebenermaßen gerade der Ur-Nosferatu in den über 100 Jahren seit seiner Premiere eine gehörige Portion Staub angesetzt hatte. Allerdings will sich der Regisseur hier auf die Schultern eines Giganten stellen und dabei kann gerade im modernen Kino viel schiefgehen. Doch konnte Eggers diesem Untoten nun neues (Un)Leben einhauchen?
Dracula-Bootleg mit Anspruch
Eine Einordnung zu Beginn: Der Ur-Nosferatu von Friedrich Murnau war eine Adaption von Bram Stokers berühmten Dracula-Roman, der damals erst 25 Jahre vor der „Symphonie des Grauens“ erschienen war. Um möglichen Rechts- und Lizensierungsproblemen aus dem Weg zu gehen, hatte Drehbuchautor Henrik Gaalen die Handlung jedoch in die fiktive norddeutsche Hansestadt Wisborg verlegt und das handelnde Personal durch Deutsche ausgetauscht.
Statt Jonathan Harker ist Thomas Hutter unser Protagonist und statt Dracula begegnen wir dem düsteren Grafen Orlok in seinem Schloss in den Karpaten. Die wesentliche Struktur des Romans ist deutlich erkennbar, vom rumänischen Grafen, der ein Haus in einer westlichen Metropole kaufen will, von der Reise des jungen Maklers in das verfallene Gemäuer im abgelegenen rumänischen Bergland, um den Kauf abzuwickeln, der Begegnung mit dem Unheimlichen und der Ankunft des Grafen und seines verderblichen Einflusses in der Stadt.
Doch schon Murnaus Film nutzte das Fehlen der Lizenz zu eigenen kreativen Entscheidungen, die Geschichte zu verändern, eigene Schwerpunkte zu setzen, Deutungen zu verschieben und erreichte damit Großes. So ist nicht mehr der nüchterne Wissenschaftler Van Helsing der Held der Geschichte, sondern der weiblichen Hauptrolle kommt eine deutlich aktivere Rolle in der Überwindung des Monsters zu. Der Graf Orlok des Nosferatu konnte sich als eigenständige Figur nebst dem immer wieder neu adaptierten und interpretierten Dracula und seiner immer gleichen Geschichte etablieren. Die größte Sünde der erwähnten Werner Herzog Nosferatu-Neuverfilmung dürfte es deshalb gewesen sein, den Grafen dann doch wieder Dracula zu nennen.
Liebe für das deutsche Original
Robert Eggers hingegen ist ein großer Fan des Ur-Nosferatu und begeht diesen Fehler nicht. Man hätte befürchten können als Amerikaner verlegt er die Geschichte wieder nach London oder gleich nach New York, doch bleibt er der Vorlage getreu in Wisborg, wir begleiten die Hutters und ihre deutschen Freunde bei ihrer Begegnung mit dem Bösen in Form des Grafen Orlok
Man erkennt die Liebe für das Original, das mit dem Einsatz von Texttafeln, Farbfiltern, dem Zitieren von Einstellungen und Effekten (die berühmte sich ins unendliche ausstreckende Schattenhand des Vampirs als eine der markantesten) und einer theaterhaften Sprache invoziert wird. Es bleibt allerdings nicht bei bloßen Anspielungen. Nosferatu: Der Untote ist keine bloße, dünn bemäntelte Geisterbahnfahrt, sondern Eggers zeigt auch, dass er verstanden hat, was Nosferatu auf der Themenebene ausmachte: die Gewalt des Monsters über die Menschen, Sexualität und Begierde, Selbstopfer und Erlösung.
Inszenierung als moderner Horrorfilm
Eggers nimmt sich hier mehr Freiheiten als die Herzog-Neuverfilmung, die das Original bis hin zu einzelnen Einstellungen kopierte. Eggers inszeniert seinen Nosferatu als einen modernen, ernsten Horrorfilm; nutzt dafür Elemente aus älteren und jüngeren Genre-Klassikern wie Der Exorzist und Drag me to Hell und erschafft damit selbst eine ziemlich furchteinflößende Symphonie des Grauens. Ein Fest für Horror-Fans. Das Tempo wird deutlich angezogen.
Schon von Beginn des Films an liegen unheilvolle Vorausdeutungen und Gefahr in der Luft. Der langsame Spannungsaufbau, der den Reiz von Stokers Briefroman ausmachte – z.B. der zunehmend immer verzweifelter werdende Aufenthalt Harkers in Draculas Schloss oder das Logbuch der Demeter – werden deutlich abgekürzt, um der titelgebenden Figur, dem Nosferatu, und seiner Präsenz auf der Leinwand mehr Raum einzuräumen. Und das funktioniert hervorragend. Der Vampir selbst ist getreu dem Original nur in vergleichsweise wenigen Schlüsselszenen direkt aktiv (diese wirken dann umso stärker), aber seine Aura und das damit einhergehende Unheil sind stets spürbar.
Orlok ist ein wahres Monstrum
Eggers hat eine eigene Vision des Blutsaugers anzubieten.
In unserem Podcast hatten wir bereits den Trend diskutiert, Vampire im allgemeinen und Dracula im Speziellen psychologisch immer weiter auszudeuten, nahbarer, menschlicher zu machen. Auch wenn dies der Vampirfigur neue Facetten abgewinnen konnte und auch erzählerisch nicht ohne Reiz war – wie in Bram Stokers Dracula (1992) von Coppola oder Interview mit einem Vampir (1994) – so hat es dem Vampir doch auch immer mehr von dem genommen, was ihn ausmacht: Das Monströse wurde ausgehöhlt, sodass Teenie-Mädchen in den 2010er-Jahren von Romanzen mit unsterblich schönen Vampirprinzen träumten.
Dracula wandelt in den meisten Interpretationen auf dem schmalen Grat zwischen (edlem) Raubtier und Aristokrat und versucht sein wahres Wesen hinter einer verführerischen menschlichen Maske zu verschleiern. Beim vom Schweden Bill Skarsgard verkörperten Graf Orlok ist die Gestalt des Edelmann hingegen nur eine brüchige, dünne Fassade, die kaum das dahinter lauernde Monster verbergen kann.
Skarsgard Maske lässt das ikonisch gewordene Vorbild Max Schreck noch erahnen, entscheidet sich statt des fledermaushaften Aussehens aber für die Gestalt eines düsteren Bojaren. Doch Orlok hat weder die Zeit noch die Notwendigkeit für Versteckspiele. Die dünne menschliche Firnis bricht schnell und wird bei erster Gelegenheit abgestreift. In der Begegnung mit Orlok gibt es keine falsche Freundlichkeit, keine Gastfreundschaft, kein Hauch des Normalen. Es gibt keine Doppeldeutigkeit. Skarsgard bringt das mit seinem Spiel perfekt herüber.
Der Nosferatu ist nicht verführerisch. Er ist abstoßend, dominant, herrisch und furchteinflößend. Eine Kraft des Bösen. Ein Wesen, das sich zwar auf Manipulation und Täuschung versteht, aber gewohnt ist, sich durch Gewalt, Dominanz und Furcht einfach zu nehmen, was es begehrt. Eggers Nosferatu gelingt es, der Vampirfigur das Monströse zurückzugeben, den Vampir nach Twilight endlich zurück in den Horrorfilm zu holen.
Nichts für Zartbesaitete
Dazu passt, dass der Film vor visuellen Horror- und Ekeleffekten, der expliziten Darstellung vergewaltigungsartiger Szenen, Gewalt und auch Gore nicht zurückschreckt, dies aber dosiert tut und sein Blatt nicht voyeuristisch überreizt. Er ist auf neudeutsch also sehr grafisch. Anders als die subtilen Klassiker dürfte der Film für feinfühlige Gemüter schwer durchzuhalten sein. In dieser Hinsicht ist er ein waschechter Horrorschocker des zeitgenössischen Kinos.
Beruhigt sein hingegen kann man, was die sonstige Darstellung angeht. Das Wisborg im 19. Jahrhundert ist keine zweite Bronx. Keine unangebrachte Diversität hat sich in den Film geschlichen, wenn man davon absieht, dass sich Schauspielerin Emma Corrin im bürgerlichen Leben gerne als Ding ansprechen lässt, was ihrer Filmrolle und dessen weiblicher und mütterlicher Ausstrahlung aber keinen Abbruch tut.
Kostüme und Sets sind sehr ansehnlich. Während man auch auf echte Drehorte geachtet hat (bei Orloks Schloss zum Beispiel), wirken leider gerade die städtischen Aufnahmen, vor allem in der Totalen, sehr künstlich. Mit der schönen Kulisse, die das Vorkriegs-Wismar für den Ur-Nosferatu bot, kann Eggers Film nicht mithalten. Auch der entsättigende, düstere Farbfilter ist wieder mit von der Partie. Während er allgemein zur Stimmung eines Monsterfilms passt, vermisst man Kontraste. Wisborg ist bereits zu Beginn des Films eine Stadt, über der ein Schatten liegt. Der zunehmende Griff des Monsters um die Stadt kann so optisch kaum zur Geltung kommen, weil wir Wisborg nie als einen hellen, heimischen Ort erlebt haben. Schade.
Die überschaubare Schauspielerriege ist durchweg gut besetzt. Die gut aussehenden Jungschauspieler bilden auch einen hervorragenden Kontrast zu Skarsgards Orlok. Willem Dafoe als Professor Franz (eine Art Van Helsing Figur) und Simon McMurney mit einer gekonnten Darbietung des wahnsinnigen Maklers Knock runden das Ganze ab. Besonders hervorzuheben ist die Leistung von Johnny Depps Tochter Lily-Rose Depp, die mit Ellen Hutter die weibliche Hauptrolle und neben Orlok eine der wichtigsten Figuren verkörpert und die melancholisch-morbide als auch die besessene Ehefrau sehr gut spielt.
Der Vampir als der große Andere
Neben seinen filmischen Qualitäten hat Nosferatu uns allerdings auch auf der Deutungsebene etwas anzubieten. Graf Orlok ist der große Andere. Nicht einfach etwas Unbekanntes, Missverstandenes, sondern eine Macht des Bösen, die den aufgeklärten Bewohnern Wisborgs völlig fremd und deshalb unabschätzbar gefährlich ist. Schon in seiner Heimat ist der Graf ein Raub- und Untier und doch wissen sich die Zigeuner und Bergbewohner gegen ihn und seinesgleichen immerhin zu schützen. Ihr Aberglaube ist ein tradiertes Wissen, das sie seine Natur verstehen und einhegen lässt. Deshalb ist der Graf auch so angetan davon, diese Welt des Aberglaubens hinter sich zu lassen.
Im zivilisierten Wisborg, „das vom Gaslicht der Wissenschaft geblendet“ ist, erwartet ihn eine völlig unvorbereitete Welt. Unter den Menschen, die nicht wissen, dass es seinesgleichen gibt, die seine Existenz sogar noch bis zum letzten abtun und verleugnen und die keine Ahnung haben, wie sie mit ihm umgehen müssen, ist er nicht nur ein Wolf unter Schafen. Er ist ein wahres Monstrum, das ungehindert schalten und walten und vom Moment seiner Ankunft an seinen Schattengriff über die Stadt ausdehnen und diese wie eine Seuche befallen und in ihr wie ein Krebs wuchern kann.
Letztlich ist niemand sicher vor ihm. Statt nur einzelnen Individuen steht schnell die gesamte Gesellschaft auf dem Spiel. Besonders pikant ist, dass der Nosferatu sich seinen Weg nach Wisborg nicht einfach erzwingt, sondern von einzelnen Bewohnern angezogen und auch eingeladen wird. Letztlich haben die Begierden der einzelnen Charaktere Anteil daran, das Monster in die Stadt und Unglück und Verderben über Nachbarn und Freunde zu bringen.
Gelungene Neuinterpretation, Hervorragender Horrorfilm
Nosferatu – Der Untote ist eine gelungene Neuinterpretation des deutschen Filmklassikers, die mit Respekt vor dem Original agiert, sich aber traut, den Stoff als einen furchteinflößend, brutalen Horrorfilm zu modernisieren und dabei eigene Akzente zu setzen. Filmische und schauspielerische Qualität sind durchweg überzeugend und die Inszenierung des Grafen Orlok als triebhaftem, düsterem herrisch-dominanten Bojaren gibt der Vampirfigur das Monströse zurück, wodurch die unterliegenden Themen des Originals betont werden.
Horror- und Vampirfans ist der Film auf jeden Fall zu empfehlen, alle anderen sollten mit sich ausmachen, ob sie die Darstellung aushalten können. Für mich ist Eggers Nosferatu schon jetzt ein starker Einstieg ins deutsche Kinojahr 2025. Es stellt sich allerdings einmal mehr die Frage, warum so eine Neuinterpretation nicht aus Deutschland kommen konnte, sondern eines Amerikaners bedurfte.