Im Mai 1947 musste sich der 51-jährige Brunnenbauer Alois Irlmaier vor einem oberbayerischen Amtsgericht wegen Betrugs und Gaukelei verantworten. Sein durchdringender Blick zeigte keinerlei Nervosität, denn er kannte das Urteil bereits: Freispruch. Der örtliche Pfarrer hatte ihn zuvor wegen betrügerischer „Hellseherei“ angeschwärzt.
Mythen in einer rationalen Welt
Wir leben heute in einer weitestgehend entmythisierten Welt. Dauernd ist das Gerede von Daten und Fakten und der einzige Glaube gilt der „Wissenschaft“. Wahrsager stellt man sich als alte Frau mit Glaskugel oder Tarotkarten vor und Hellseherei gilt in unserer durchrationalisierten Gesellschaft gemeinhin als Betrugsmasche. Für gewöhnlich ist es das auch.
In den alternativen Medien geistern vor allem diverse Aussagen von Irlmaier zu einem Dritten Weltkrieg umher. Um einschätzen zu können, ob es sich um das übliche Schwadronieren über Weltuntergangsszenarien handelt, oder ob doch mehr Substanz dahintersteckt, muss man sich mit der einzigartigen Persönlichkeit Alois Irlmaiers beschäftigen.
Wer war Alois Irlmaier?
Irlmaier wurde 1896 als Bauernsohn im südöstlichen Teil Bayerns geboren. Bereits in seiner Jugend konnte er Wasseradern bis zu hundert Meter unter der Erde, ohne Wünschelrute und auf den Punkt genau, erspüren. „Schon als Kind ist es mir gwesn, als wenn´s in mir brausen tät, wenn i über das Wasser geh“, so Irlmaier selbst. Seine Blutadern in den Händen schwollen dabei derart an, dass auch Umstehende den Vorgang bezeugen konnten.
Der Alisi – wie ihn Bekannte nannten – lies sich ungern fotografieren. Er war kein schöner Mann. Seine großen Augäpfel lagen unnatürlich tief in den Augenhöhlen, sodass die Stirn- und Jochbeinknochen die hellen graublauen Augen schattig einrahmten. Die lange, scharf gebogene Nase reichte über den dunklen Schnurrbart fast bis zum kleinen, schmallippigen Mund, dem ein paar Zähne fehlten. Sein von Wind und Wetter gezeichnetes Gesicht hatte etwas Eulenhaftes. Meist trug er einen Hut oder eine Mütze, die seine Halbglatze überdeckten. Er kleidete sich in einem grauen, ausgewaschenen Kittel und hohen Stiefeln, wie es für einen einfachen Bauern üblich war. Für seine hagere Statur war er ungewöhnlich kräftig. Auf den wenigen Bildern, die von ihm existieren, hat er meist einen stechenden Blick. Die Leute, die ihn aufsuchten, wurden zunächst von einem wild bellenden Hund am Zaun abgehalten.
Zeitzeugen, die mehr als nur den ersten Eindruck von ihm gewinnen konnten, beschrieben Irlmaier jedoch stets als hilfsbereiten, bodenständigen und geradlinigen Mann. Seine Ausdrucksweise war geprägt von einem derben, altbayrischen Dialekt, außergewöhnlicher Direktheit und einem Funken feinsinniger Ironie. Er duzte jeden Menschen wie einen Altbekannten. Neben seiner seherischen Qualität ist es eben jene ehrliche Direktheit, mit der Irlmaier seine Visionen mitteilte, die ihn von anderen Sehern abhebt. Diese drückten sich vage aus und sprachen in Rätseln, um sich vor Maßregelungen der Obrigkeit zu schützen. Der Prophezeiungsforscher Stephan Berndt bezeichnet Irlmaier als „Begabungs-Rarität wie Mozart oder Leonardo da Vinci“.
Irlmaiers erste „Schauung“
Im 1. Weltkrieg wurde Irlmaier verschüttet und kam dabei fast ums Leben. Häufig wird dieser Vorfall als Initialzündung für seine Sehergabe angeführt. Doch die erste „Schauung“ hatte er erst eine Dekade später. Seine besondere Fähigkeit, Wasseradern aufzuspüren, brachte ihm bald ein hohes Renommee und viele Aufträge ein. Im Jahr 1928 engagierte ihn ein Bauer im Salzburger Umland. Wie es im katholischen Süddeutschland zu dieser Zeit üblich war, hing in dessen Stube ein Marienbild. Irlmaier betrachtete das Bildnis genauer, denn es gefiel ihm, als plötzlich die Gottesmutter aus dem Rahmen heraus trat, vor ihm stand und ihn direkt mit gnädigem Blick ansah. Dann zog sie sich wieder zurück. Der Brunnenbauer rieb sich die Augen und alles war wieder wie zuvor. Er konnte das Ereignis nicht einordnen, doch sollte er von nun an weitere „Gesichte“ haben.
Anekdoten über den Seher von Freilassing
Nach dem eingangs erwähnten Freispruch, veröffentlichten mehrere Zeitungen eine Anekdote aus dem Gerichtssaal. Der Richter hätte Irlmaier zu Beginn der Verhandlung spöttisch um eine Kostprobe seiner übersinnlichen Fähigkeit gebeten. Irlmaier entgegnete ihm, dass er sehe wie seine Frau gerade zu Hause in einem roten Kleid am Küchentisch säße und Besuch von einem Mann hätte. Als der Richter einen Gerichtsdiener zu seinem Wohnhaus entsenden wollte, meinte Irlmaier, er solle am besten noch einen zweiten schicken, sonst würde man ihm am Ende nicht glauben. Die Aussage des Angeklagten erwies sich als wahr. Die Frau des Richters trug tatsächlich ein rotes Kleid und unterhielt sich am Küchentisch mit einem Freund der gerade aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war.
Es gibt heute haufenweise Anekdoten über die Sehergabe des Freilassinger Brunnenbauers. So berichtete der Sohn eines Freundes von Irlmaier, dass sein Vater den Alisi, nach dessen Hilfe in der Werkstatt, fragte, was er ihm nun anbieten könne. Irlmaier entgegnete ihm, er würde gerne einen Zigarillo rauchen. Der Vater meinte, er hätte keinen, woraufhin Irlmaier sofort erwiderte: „Freilich, im Schlafzimmer steht auf´m Schrank ein Kastl. Da san die Zigarillo drin.“ Es war tatsächlich so.
Mit einem Oberst saß er einst in einem Wirtshaus. Vom Nachbartisch aus fixierte Irlmaier den Mann mittleren Alters mit ernstem Blick. Der Oberst rief ihm zu, er solle nicht so zuwider sein und mittrinken. Irlmaier darauf: „I moan allweil, in drei Tag is dir as Lachen a verganga. Dann lebst nimmer.“ Der Mann, der sich bester Gesundheit erfreute, erschrak kurz, ignorierte aber die Aussage. Drei Tage später starb er an einem Schlaganfall.
Der Brunnenbauer löst Kriminalfälle
Als sich seine Gabe herumsprach, suchte sogar die Polizei Irlmaier auf, um Kriminalfälle aufzuklären, bei denen sie selbst nicht weiterkam. Als eines Tages zwei Beamte mit ihrem Dienstwagen auf seinem Grundstück hielten, kam Irlmaier direkt auf sie zu und fragte, was sie denn mit ihrem gestohlenen Auto bei ihm wollten. Die Polizisten konnten nichts mit der Aussage anfangen. Sie waren hier, weil ein Mord geschehen war, aber die Leiche nicht gefunden werden konnte. Irlmaier beschrieb ihnen genau den Ort, an dem der Tote vergraben lag und erwähnte noch, dass dieser eine silberne Platte im Bauch hätte. Die Leiche wurde genau an der Stelle gefunden, die der Mann mit dem „Zweiten Gesicht“ beschrieben hatte. Bei der Obduktion stellte sich heraus, das der Ermordete tatsächlich eine silberne Platte unter dem Bauchfell hatte, was vorher niemand wusste. Ebenfalls stellte sich heraus, dass der Dienstwagen dem Vorvorbesitzer gestohlen wurde.
Der Staatsanwaltschaft Rosenheim half Irlmaier nachweislich einen Giftmord aufzuklären. Ein Berliner Pharmazeut ließ sich nach Kriegsende in Traunstein nieder. Kurz nachdem er seine Frau, zugunsten seiner Geliebten enterbt hatte, verstarb er. Die Ehefrau erkundigte sich bei Irlmaier nach dem Tod ihres Mannes. Er meinte: „Dreimal ist etwas geschehen. Eines natürlichen Todes ist er nicht gestorben, wenn man ihn ausgräbt, wird man in seinem Körper Gift finden.“ Die Traunsteiner Staatsanwaltschaft ließ den Leichnam exhumieren und untersuchen. Man stellte fest, das ihm dreimal eine größere Menge Arsen verabreicht wurde.“
Selbst die Stuttgarter Kripo kam einmal nach Freilassing, das direkt an das österreichische Salzburg grenzt, um Irlmaier das Foto eines Mannes, der als Hauptverdächtiger wegen Mordes an seiner Ehefrau angeklagt werden sollte, zu zeigen. Da dieser trotz Motiv beharrlich seine Unschuld beteuerte, wollten sie wissen, wie er die Ermordete getötet hatte. „Na, der hat´s ned umbracht“ entgegnete Irlmaier lakonisch. „Zeigt´s mir des andere Bild, des ihr dabei habt´s.“ In der Tat hatte einer der Kriminalbeamten ein weiteres Foto in seiner Brusttasche. Darauf sah man den Leichenzug bei der Beerdigung des Mordopfers. Irlmaier zeigte auf den vorletzten Mann des Trauergefolges.
„Der da is gwesn, der hat´s umbracht. Er hat ihren Schmuck, an Ring und an Fotoapparat gstohlen. Aber des hätt´s scho selber rausbringen können, ihr habt´s ja a Schreiben daheim, da steht´s drauf. Der hat einer anderen Frau was von dem gstohlnen Zeug gschenkt. Zur dera geht’s hin, dann dawischt´s an Richtigen.“
Als die Beamten wieder zurück waren, entdeckten sie in den Akten ein anonymes Schreiben, in dem eine Frau verdächtigt wurde, im Besitz eines wertvollen Rings der Ermordeten zu sein. Der Mann, auf den Irlmaier gedeutet hatte, gestand die Tat und wurde verhaftet.
Irlmaiers Augen während einer Vision
Das eingangs beschriebene, ungewöhnliche Augenpaar des Sehers und sein klarer Blick, mit dem er den Leuten direkt in deren Augen sah, blieb seinen Zeitgenossen im Gedächtnis. Die Bayerische Landeszeitung schrieb 1949: „Nur eines ist sofort auffällig: – das Auge! Einem solchen Augenpaar begegnet man selten…“
Mehreren Berichten zufolge veränderten bzw. verdunkelten sich Irlmaiers Augen wenn er ein Bild derart fixierte. Der Reporter der Altbayerischen Heimatpost wurde bei seinem Besuch im Frühjahr 1949 selbst Zeuge einer Schauung Irlmaiers und beschrieb seine Wahrnehmung wie folgt:
„Mit einmal sind seine Augen verändert. Dieses plötzliche, irgendwie erregende Verändern der Farbe und des Ausdrucks der Augen, ist das, was beim Betrachten des Gesichts vor uns am meisten auffällt. Man meint: Entweder hat dieser Mann auf einmal keine Augen mehr oder sie sehen plötzlich nach innen.“
Warnung vor Luftangriffen im 2. Weltkrieg
Am Ende des Zweiten Weltkriegs sagte Irlmaier die Bombenangriffe auf Freilassing und Rosenheim auf den Tag genau voraus. Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass der Krieg damals schon lange verloren war. Die Menschen in den kleineren Städten, ohne kriegswichtige Infrastruktur, insbesondere im ländlichen Bayern, das noch dazu geografisch deutlich schwieriger für die Briten zu erreichen war, dachten, es wäre überstanden. Doch die Alliierten flogen von England bis in den Südosten des Reichs und warfen ihre Bomben auch noch im April 1945 – u.a. auf Freilassing und Rosenheim – ab. Irlmaier sagte sogar vorher, wo genau die Bomben einschlagen und welche Häuser einfallen bzw. unbeschadet bleiben würden.
Einer Verwandten in Rosenheim gab er den Rat, nicht in den Bunker am Salinplatz zu gehen. Dort in der Mitte des Raumes sehe er Leichen. Im Stollen hinab und am Eingang sei es aber sicher. Das sprach sich in der Stadt herum. Als die Bomben bereits flogen, kamen ein paar Soldaten, die nur auf der Durchreise waren und ignorierten die Warnungen der Rosenheimer. Sie begaben sich in die Mitte des Bunkers, die völlig frei war, woraufhin auch gleich ein Volltreffer einschlug und sie zerriss. Die Menschen am Stolleneingang blieben unverletzt.
Die Auskunftssuchenden
Es gab mittlerweile unzählige, von einander unabhängige Bezeugungen von Irlmaiers übersinnlichen Fähigkeiten, sodass sich die Rede vom Seher aus Freilassing in der Nachkriegszeit im ganzen deutschsprachigen Raum verbreitete. Jedes Wochenende standen über hundert Menschen Schlange vor seiner barackenähnlichen Werkstatt, in der er jedem Einzelnen Auskunft gab. Die Menschen warteten zum Teil mehrere Tage. Der Spiegel schreibt in seiner Ausgabe vom 24. September 1948, dass diejenigen, die keine Übernachtungsmöglichkeit fanden, auf der der Straße geschlafen hätten. Die ersten kamen um fünf Uhr morgens, die letzten gingen um zehn Uhr abends. Der Brunnenbauer legte neben seinem alltäglichen Broterwerb ein gewaltiges Arbeitspensum an den Tag.
Lieber ein „Vergelt´s Gott“ als Geld
Regelmäßig kamen auch GIs mit einem Dolmetscher vorbei, um von Irlmaier zu erfahren, wie es ihren Familien jenseits des Atlantiks ginge. Einmal suchte ihn sogar die Schwester des Militärgouverneurs der amerikanischen Besatzungszone, Lucius D. Clay, auf. Gemäß der groben, aber geradlinigen Art des Brunnenbauers musste auch sie sich in die Schlange einreihen, wie jede einfache Magd aus der Umgebung. Dem Reporter der Altbayerischen Heimatpost verriet Irlmaier, sie hätte ihm den Rat gegeben, nach Amerika zu gehen, wo er mit seiner Sehergabe viel Geld machen könnte. Irlmaier habe ihr entgegnet: „I geh ned fort aus der Heimat und auf´s Geld bin i ned so scharf. I kann mit meiner Brunnengraberei soviel verdienen, als i brauch, mehr will i ned.“. Tatsächlich verlangte er nicht einmal eine Entlohnung für seine seherische Dienstleistung, nur gelegentlich nahm er eine Spende von fünf Mark an. Ein „Vergelt´s Gott“ oder ein Dankgebet war dem gläubigen Katholiken lieber.
Eine Frau, der Irlmaier Auskunft über einen Vermissten gab, bedankte sich bei ihm mit einem herzlichen „Vergelt´s Gott“, woraufhin er meinte: „Jetzt hast dein Knecht aus´m Fegfeuer erlöst, da steht er und dankt dir!“. Ihr Knecht war tatsächlich vor kurzem verstorben. Der Alisi betrachtete seine Fähigkeit als Gottesgabe. Eine Gabe, um die er nicht beneidet werden wollte. „Es is ned bloß allweil was Schön´s was i siech, ganz im Gegenteil, es san oft greisliche Sachen dabei.“
Die Vermissten nach dem Kriegsende
In der Nachkriegszeit, als Millionen von Anfragen beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes eingingen, waren es größtenteils Ehefrauen oder Mütter, die Irlmaier nach dem Schicksal ihrer Männer und Söhne fragten, welche nicht aus dem Krieg heimgekehrt waren. Er betrachtete dann ein Bild des Vermissten und konnte genau sagen, wo er sich im Moment aufhielt und wann bzw. ob er wiederkommen würde oder wie er gestorben sei. Die gefallenen Soldaten sah Irlmaier – wie alle Toten – als schwebende, lichte Schleiergestalten. Im August 1948 suchte ihn eine Frau auf, deren Mann schon vor Jahren für tot erklärt wurde. Sie wollte wissen, ob sie wieder heiraten dürfe oder ob ihr Mann noch nach Hause zurückkehren würde. „Wart no a bissl. I moan bis Weihnachten kimmt er.“, konnte Irlmaier kundtun. Wenige Tage vor Weihnachten kehrte ihr Mann heim.
Neben den zahlreichen Besuchern, erreichten ihn noch tausende Briefe, teilweise sogar aus den USA, mit Bildern von Vermissten oder der Bitte um Auskunft zu banaleren Themen wie Finanzspekulation. Selbst wenn er hätte wollen, es wäre unmöglich gewesen, alle Zuschriften zu beantworten.
Der zweite Teil des Artikels: „I sag halt, wie i´s seh“ – Irlmaier prophezeit den Dritten Weltkrieg (2/2)