Dies ist die Fortsetzung des Artikels Der Mythos um den Seher Alois Irlmaier.
Seit dem Gerichtsprozess 1947 war Irlmaier vorsichtiger geworden. Der Richter sprach ihn zwar frei, da seine Fähigkeiten nicht mit den bekannten Naturkräften erklärbar seien, doch wollte er nie mehr in so etwas verwickelt werden. Trotzdem kam er den Bitten der Menschen vorerst noch weiter nach, vermutlich aus Hilfsbereitschaft und aus Verantwortung vor seiner Gabe.
„I sag nix mehr“
Als der Fall in den Jahren 1949/50 medial weite Verbreitung fand, wurde es Irlmaier dann doch zu viel. „I sag nix mehr“ war ein vielzitierter Ausruf in den damaligen Zeitungsartikeln, oftmals auch mit der Bitte an die Leser, den Freilassinger Brunnenbauer nicht aufzusuchen. Der Münchner Merkur zitiert den Seher in seiner Ausgabe vom 18. Oktober 1949 wie folgt: „Moana S´ i hab no net gnua mit der Schererei, die i bisher vom Hellsehn ghabt hab? I grab liaba den tiefsten Brunnen aus, als daß i mi noch mal vor´s Gericht und d´Polizei schleppen laß.“
In einem Schreiben des Leiters der Freilassinger Polizei, Wachtmeister Obermayer, vom 30. Mai 1950 erklärte dieser:
„Irlmaier lässt seit März 1950 fast keine Personen mehr vor. Die Besucher, die trotzdem vor seinem Gartenzaun auf Einlaß warteten, fuhren meist nach einigen Tagen wieder ab. […] Der Zustrom ist wie abgeschnitten. Es kann mit Bestimmtheit angenommen werden, dass sich das Bild sofort wieder verändert, wenn neuerdings wiederum Zeitungen beginnen, Sensationsberichte über Irlmaier zu bringen.“
Versetzt man sich in seine Lage, kann man durchaus verstehen, dass Irlmaier das Hellseherhandwerk in seinen letzten Lebensjahren praktisch aufgegeben hatte. Neben den Auskunftssuchenden und dem Medienrummel kommt noch die seelische Belastung der Gesichte hinzu. Stellen wir uns vor, wie es ist, jedes Wochenende auf´s Neue zu sehen wie Soldaten an der Front zerfetzt werden oder in einem sowjetischen Gefangenenlager krepieren, immer im Bewusstsein, dass es zwar wie ein Film aussieht, aber doch die Wirklichkeit ist. Und kaum verschwindet dieses Szenario, blickt man in die hoffnungsvollen Augen der Ehefrau des Gefallenen und muss ihr berichten, was man gesehen hat. Das kann man nicht ein Leben lang durchhalten.
Irlmaiers Fehlerquote
Es sei allerdings auch darauf hingewiesen, dass nicht alle von Irlmaiers Schilderungen zutrafen. Der Reporter der „kleinen Illustrierten“, der ihn 1950 interviewte, schrieb in seinem Artikel, dass Irlmaiers Darlegung seiner persönlichen Vergangenheit nur teilweise gestimmt hätte. Der Wachtmeister Obermayer erwähnt in o.g. Schreiben ein persönliches Erlebnis mit Irlmaier. Dieser habe bezüglich der Anzeige eines Diebstahls einer Brieftasche mit 150 DM Inhalt gemeint, das Geld wäre schon längst nicht mehr in Deutschland. Die „bestohlene“ Frau ging also davon aus, dass ihre Dienstmagd, die vor kurzem nach Schweden ausgewandert war, das Geld entwendet hätte. Ein paar Tage später meldete sich die Frau jedoch beim Wachtmeister und teilte ihm mit, sie hätte die Brieftasche samt vollständigem Geldbetrag in ihrem Schrank gefunden.
Dr. Lehle, der Richter, der Irlmaier 1947 freigesprochen hatte, soll bestritten haben, dass sich die erwähnte Anekdote aus dem Gerichtssaal tatsächlich ereignet hätte. Unabhängig davon attestiert er Irlmaier in seiner Urteilsbegründung nachweislich, dass „gelegentliche Mißerfolge“ nicht zur Annahme führen würden, dass er ein Gaukler sei.
Seine große Zukunftsschauung: Der Dritte Weltkrieg
In der Nachkriegszeit wurden einige Artikel über Alois Irlmaier abgedruckt. Nicht nur weil er seine Ruhe haben wollte, hörte dies ab 1950 auf. Über die Jahre hinweg hatte er immer wieder Gesichte, die ihm Bilder aus der Zukunft zeigten. Er sprach nur ungern darüber, denn es sei nicht viel Schönes: „Die Leut´ meinen immer, das alles so werden müsste, wie sie es sich wünschen, aber i seh´s genau. A dritter großer Krieg is ziemlich sicher, aber i woas ned wann er kimmt.“
Man muss sich dazu die damalige politische Situation vor Augen führen. Im April 1949 wurde die NATO gegründet. Im August 1949 zündete die Sowjetunion die erste Atombombe und es begann das Wettrüsten mit den USA. Da es noch keine Interkontinentalraketen gab, war das potenzielle Schlachtfeld Europa. Ebenso lebten die Menschen, trotz der neuen atomaren Gefahr, im Bewusstsein einer traditionellen Landkriegsführung.
Die Vorzeichen des Krieges
Die gemeinhin als Vorzeichen für den nächsten großen Krieg angeführten Phänomene konnte ich anhand der Zeitungsartikel, die zu Irlmaiers Lebzeiten veröffentlicht wurden nicht zurückverfolgen. Im Buch von Stephan Berndt „Ein Mann sagt, was er sieht“ bezieht sich dieser auf eine Caritasschwester aus den 50er Jahren, der Irlmaier Folgendes prophezeit haben soll:
„Zuerst kommt ein Wohlstand, wie noch nie. Dann folgt ein Glaubensabfall wie noch nie zuvor. Darauf eine Sittenverderbnis wie noch nie. Alsdann kommt eine große Zahl fremder Leute ins Land. Es herrscht eine große Inflation. Das Geld verliert mehr und mehr an Wert. Bald darauf folgt eine Revolution. Dann überfallen die Russen über Nacht den Westen.“
Irlmaiers Zukunftsvisionen wurden in den Jahren bis 1950 in verschiedenen Zeitungen auszugsweise abgedruckt. Auch in dem bereits zitierten Interview mit der Altbayerischen Heimatpostpost 1949 beschrieb er dem Reporter gegenüber seine Schauung. 1950 veröffentlichte Dr. Conrad Adlmaier, nach einem Gespräch mit Irlmaier, ein Büchlein mit dem Titel „Blick in die Zukunft“, das er 1955 und 1961 in neuer Auflage erneut herausbrachte. Darin fasste er, neben verschiedenen Anekdoten, auch die Beschreibungen des Brunnenbauers zu seinen großen, politischen Gesichten zusammen. Folgende Aussagen entstammen größtenteils den beiden vorgenannten Texten, wobei es sich wohlgemerkt um keine vollständige Auflistung handelt.
Drüben im Osten gibt’s no an großn Umschwung. Des geht aber no ned so schnell.“
Im Jahr vor Kriegsausbruch gäbe es ein prächtige Ernte. Ein dritter Hochgestellter soll noch im Osten ermordet werden. Dann bräche es über Nacht los. Stephan Berndt verweist hinsichtlich der Vorstufe zum Krieg noch auf eine Aussage Irlmaiers, in der er gescheiterte Friedensverhandlungen und einen plötzlich aufflammenden Nahostkrieg erwähnt, sowie den Fall eines „Großen“ am Balkan, was letztendlich das Pulverfaß entzünden würde.
Der Kriegsverlauf
„So schnell kommen sie, daß die Bauern am Wirtstisch beieinandersitzen, da schauen die fremden Soldaten schon bei den Türen und Fenstern herein. Weg kommt nicht leicht mehr einer, aber es geht alles so schnell vorüber, daß man es nicht glaubt“.
„Drei Stoßkeile sehe ich heranfluten. Der untere Heerwurm kommt über den Wald, zieht sich dann aber nordwestlich der Donau hinauf. Die Linie ist etwa Prag, Bayerwald und Nordwesten. Das blaue Wasser (Donau) ist die südliche Grenze. Der zweite Stoßkeil geht von Ost nach West über Sachsen, der dritte von Nordosten nach Südwesten. Jetzt sehe ich die Erde wie eine Kugel vor mir, auf der die Linien der Flugzeuge hervortreten, die nunmehr wie Schwärme von weißen Tauben aus dem Sand auffliegen.“
„Der Russe rennt in seinen drei Keilen dahin … bis ans Ruhrgebiet, wo die vielen Oefen und Kamine stehen. Aber dann kommen die weißen Tauben und es regnet auf einmal ganz gelb vom Himmel herunter. Eine klare Nacht wird es sein, wenn sie zu werfen anfangen. Die Panzer rollen noch, aber die Fahrer sind schon tot. Dort wo es hinfällt, lebt nichts mehr, kein Mensch, kein Vieh, kein Baum, kein Gras, das wird welk und schwarz. Die Häuser stehen noch.
„Es san bloß so kloane Kastl, aber sie san recht gfährli“
„Wenn der Krieg kimmt, nachat beißt´s drobn im Norden am meisten aus. I siech a groß´Wasser. Des überschwemmt die Ufer und wen´s erwischt, der kimmt nimmer lebend davo.“
Drei Städte sieht er untergehen, die eine im Süden würde im Schlamm versinken, die andere im Norden geht im Wasser unter und die mit dem eisernen Turm würde von den eigenen Leuten angezündet. In Italien gäbe es eine Revolution. Die Geistlichen würden umgebracht, aber der Papst könnte übers Wasser entkommen. Das würde aufschäumen. Die Regionen an der Küste seien gefährdet. Ein Teil der „stolzen Insel“ würde im Wasser versinken, wenn der Flieger das „Ding“ ins Meer wirft.
Während des Krieges soll es eine dreitägige Finsternis geben. Jeder, der nach draußen geht oder ein Fenster öffnet, würde sterben. „Draußen geht der Staubtod um“. Der Strom wäre aus. Das Wasser aus der Leitung sei genießbar sowie Essen aus verschlossenen Dosen.
Das Kriegsende und die Zeit danach
Es würde entweder im Frühjahr oder im Herbst passieren und nicht lange dauern. Irlmaier gab an, einen Dreier zu sehen, konnte aber nicht sagen, ob das drei Tage, Wochen oder Monate bedeuten würde.
„Drei Neuner sehe ich, was das bedeutet, kann ich nicht sagen. Der dritte Neuner bringt den Frieden.“
„Der Ami wird den anderen Herr und wir haben wieder freie Hand in unserem Heimatland.“
Am Ende oder noch während des Krieges sehe er ganz deutlich Jesus mit den Wundmalen am Himmel.
Wenn alles vorbei ist, würden die Leute wieder gottesfürchtig sein, aber mehr Menschen tot als in den beiden Weltkriegen zusammen.
„Frieden wird sein und eine gute Zeit. Eine Krone sehe ich blitzen. Ein hagerer Mann wird unser König sein.“
Nach einer Hungersnot, gäbe es Lebensmittel im Überfluss. Es würde viel wärmer sein. Weintrauben und Südfrüchte würden wachsen.
„Nach der Katastrophe wird ein lange, glückliche Zeit kommen. Wer´s erlebt, dem geht’s gut, der kann sich glücklich preisen.“
Adlmaier stellt fest, dass diese Voraussagen von Irlmaier ursprünglich für das Jahr 1950 getroffen wurden und sich offensichtlich nicht bewahrheitet hätten. Er erwähnt hierzu, dass die Zahlen vom Seher selbst gedeutet wurden oder möglicherweise auch eine Fürbitte der Jungfrau Maria das Unheil abgewandt hätte. Auf die Frage, ob diese Schauung danach verschwunden wäre, entgegnete Irlmaier, dass das Gegenteil der Fall sei, er sehe es noch deutlicher.
Sah Irlmaier eine russische Invasion Deutschlands voraus?
Nun gut, soll das jetzt heißen, die Russen kommen und legen Deutschland nördlich der Donau und östlich des Rheins in Schutt und Asche? Dann folgt ein chemischer Luftschlag der Amerikaner und danach werden wir das beste und wärmste Deutschland aller Zeiten haben? Vielleicht. Ich würde mich aber nicht darauf verlassen. Allerdings kann ich auch in einer halben Stunde südlich der Donau sein.
An den genannten Vorzeichen für den neuen Krieg erscheinen mir jedenfalls zwei Aspekte unplausibel. Zum einen kann ich mir nur schwer vorzustellen, dass der Einfall der russischen Armee über Nacht und ohne größere Gegenwehr erfolgen soll. Dafür müssten die Truppen bereits nach Polen und Tschechien vorgerückt sein, ohne dass dies größere Unruhen und Verteidigungsmanöver im Westen zur Folge gehabt hätte.
Zum anderen sah Irlmaier anscheinend ein Bild, wonach die russische Armee bis zum Ruhrgebiet vordringen würde, wo großen Öfen und Kamine stehen. Nach jahrzehntelanger Abkehr vom Kohlebergbau und der aktuellen Deindustrialisierung, stehen eh schon weniger entsprechende Anlagen im Ruhrgebiet als zu Irlmaiers Zeit der Montanindustrie und es werden wohl noch weniger werden.
Die Schwierigkeit, Prophezeiungen zu deuten
In Anlehnung an das Gerichtsurteil kann man wohl davon ausgehen, dass Alois Irlmaier über Fähigkeiten verfügte, die mit den damals wie heute bekannten Naturkräften nicht erklärbar sind. Die unzähligen Berichte über seine Sehergabe belegen dies. Inwieweit man davon ausgehen kann, dass sich diese auch auf seine politischen Vorhersagen übertragen lässt, ist fraglich. Allerdings erwähnt Stephan Bernd, dass außer Irlmaier noch weitere Seher Bestandteile von dessen großer Schauung – wie der Inflation oder der dreitägigen Finsternis – beschrieben haben sollen.
Betrachtet man nun jedoch das Weltgeschehen seiner eigenen Zeit mit diesen Vorhersagen im Hinterkopf, identifiziert man regelmäßig Ereignisse als potentielle Elemente dieser Visionen und läuft Gefahr sich darin zu verlieren. In den 1990er konnte man ohne Ende herumspekulieren, welches Jahr, oder welchen Tag Irlmaier mit seinen drei Neunern gemeint haben könnte. 2005 fackelten migrantische Jugendliche in Pariser Banlieues über Wochen hinweg Autos und Häuser ab. Wer damals erwartet hatte, dass die Stadt mit dem eisernen Turm nun dem Erdboden gleichgemacht würde, der lag falsch.
Irlmaier verweist uns auf den Mythos
Die Hoffnung auf die Existenz von etwas Übernatürlichem, das über den schnöden Mammon und das materialistische Weltbild unserer Zeit hinausgeht, trug ich stets in mir. Das verstaubte, nichtssagende Gelaber alter Popen, das klischeehafte, esoterische Gequatsche von dauergrinsenden Frauen mittleren Alters sowie lächerlich absurde Mystery- und Horrorfilme wirkten diesbezüglich jedoch alles andere als förderlich.
Durch die Beschäftigung mit Alois Irlmaier hatte ich erstmals das – teils wohlige, teils beunruhigende – Gefühl, das es tatsächlich eine Form von Anderswelt gibt, die wir Menschen nicht erfassen und erst recht nicht beschreiben können. Irlmaier fand über seinen katholischen Glauben einen Zugang. Anderen „Sehern“, mit einem anderen Bezugsrahmen, offenbart sich diese Welt auf ihre Weise. Ebenso artikulieren diese Menschen ihre Gesichte logischerweise in der Sprache und innerhalb des Erkenntnishorizonts ihrer jeweiligen Gesellschaft.
Um abschließend noch einmal auf Irlmaiers große Vorausschau zurückzukommen:
Irlmaier selbst leugnete nicht, dass die ein oder andere Schilderung nicht zutreffend war. Bezüglich seiner Zukunftsvision verwies er darauf, dass er schon viele Gesichte gehabt hätte, die sich bewahrheitet hätten.
„Freilich kann i mi a irren, i bin a bloß a Mensch. I sag´s halt wie i´s seh´. Unserem Herrgott kann keiner ins Handwerk pfuschen, aber vielleicht erlaubt er´s, dass i a bisserl in sei Werkstatt schau. Ob alles so wird, wie i´s sagen kann, des woas i ned. Wenn´s die Leut ned glauben wollen, dann sollen´s es halt bleiben lassen.“
Quellen
Anzeige des Freilassinger Pfarrers vom 16.02.1946
Urteilsbegründung im Gaukler-Prozess vom 19.05.1947
Lagebericht des Freilassinger Polizeichefs Obemayer vom 30. Mai 1950
Spiegel – Ausgabe 39/1948 vom 24. September 1948
Oberbayerisches Volksblatt vom 13. Oktober 1949
Münchner Merkur vom 22./23. Oktober 1949
Altbayerische Heimatpost vom 06., 13. und 20. November 1949
Herz Dame vom 11. März 1950
Landshuter Zeitung vom 12. April 1950
Kleine Illustrierte Folge 5-7 (Jahrgang 1950)
Tatsachenberichte um Alois Irlmaier von Ernst Ladurner (1952)
Blick in die Zukunft von Dr. Conrad Adlmaier; 2. Auflage von 1955
Berndt, Stephan (2009): „Alois Irlmaier – Ein Mann sagt was er sieht“ (3.Aufl.)G. Reichel Verlag