Nach taoistischer Vorstellung ist alles Lebende von Qi, der Lebensenergie, durchdrungen. Diese kann dabei nicht durch westlich-empirische, schulmedizinische oder sonstige naturwissenschaftliche Konzepte „übersetzt“ werden: Qi symbolisiert eine metaphysische Lebenskraft, die nicht nur allem Lebenden innewohnt, sondern die auch sowohl harmonisch verlaufen als auch in Disharmonie gebracht werden kann. Im letzteren Fall drohen Krankheit und schließlich, sollte der Fluss des Qi enden, der Tod.
Harmonie des Yin und Yang
Das berühmte taoistische Yin-Yang-Symbol spielt hier ebenfalls eine entscheidende Rolle: Wo Yin (die dunkle Seite) und Yang (die helle Seite) in Harmonie zueinander sind, wie das Symbol darstellt, befindet sich das Qi in Fluss. Hier herrscht Leben. Wo eine Seite überwiegt, entsteht Disharmonie. Der Taoist begreift die dunkle Seite als etwas, das angenommen und akzeptiert und, wie das Yin-Yang-Symbol aufzeigt, mit der hellen Seite in Harmonie gehalten werden muss, damit beides im Fluss gehalten und damit Leben erhalten werden kann. Dieses Harmoniebedürfnis drückt sich in vielen ganzheitlichen chinesischen Denksystemen und Ansätzen aus, so etwa im Kung Fu, im Tai Chi, im Qi Gong, im Feng Shui – und in der sogenannten makrobiotischen Ernährung.
Der Ansatz des Yin und Yang kann auf Nahrungsmittel problemlos übertragen werden: All diese sind demnach als entweder der einen oder der anderen Seite oder als neutral einzuordnen. Die zentralen Thesen der Makrobiotik fußen auf Ideen vor allem des japanischen Arztes Sagen Ishizuka (1850 – 1910). Dieser proklamierte dabei unter anderem, dass gesunde Ernährung die Grundlage bildet für Gesundheit und Glück. Er sah dabei Natrium und Kalium als zwei ursprüngliche Gegenpole, in denen sich das Verhältnis von Yin und Yang ausdrückt.
Grundsätze makrobiotischer Ernährung
Das für Menschen passgenaue, maßgebliche Grundnahrungsmittel bildet ihm zufolge Vollkorngetreide; Nahrungsmittel sollten in natürlicher, möglichst unveränderter Form verzehrt werden, aus der jeweiligen Region stammend. Gemüse, Obst, weitgehend vegetarische Ernährung, kleine Mengen Fisch, brauner Reis, Tee und nicht zuletzt ein Anbau, der hochwertigen ökologischen Kriterien entspricht, sind gewissermaßen ideale Konstanten makrobiotischer Ernährung – und dies in ständiger Verbindung mit einem ausgeglichenen Verhältnis der „Grundstoffe“ Natrium und Kalium bzw. Yin und Yang – ohne Übermaß von einer der beiden Seiten und unter Vermeidung etwa von Alkohol, Kaffee, Milchprodukten und Zucker sowie von Kartoffeln, Tomaten und Paprika, die als zu „Yin“ gelten. Anstatt mit chemischen Produkten soll mit Soja, Essig, Meersalz, Ingwer, Knoblauch oder Gartenkräutern gewürzt werden. Bei Mahlzeiten ist ausgeprägtes Kauen wichtig; es soll zudem nur gegessen werden bis ansatzweise ein leichtes Sättigungsgefühl eintritt.
Bedeutend weiterentwickelt wurde Ishizukas Lehre durch den japanischen Philosophen Georges Ohsawa (1893-1966), welcher – auch unter dem Eindruck der erfolgreichen Anwendung bei sich selbst – ihr mehrere Prämissen hinzufügte: So gilt es vor allem, mit der Makrobiotik der Ermüdung entgegenzutreten, die ein Zeichen für Krankheit darstellt – umgekehrt bedeutet demgemäß Gesundheit auch weitgehende Freiheit von Ermüdungssymptomen. Auch schlechter Schlaf, der zu lange dauert oder gar von heftigen Träumen geprägt ist, deutet auf Krankheit hin. Ein gesunder Mensch hingegen kann demnach überall traumlos tief schlafen, ohne für die Regeneration mehr als 4 bis 6 Stunden zu benötigen. Nahrung solle möglichst einfach sein, der Appetit jedoch groß. Auch eine gesunde Sexualität steht für Gesundheit.
Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang auch die kognitive Dimension: Wer viel vergisst und länger braucht, um Dinge zu begreifen, ist nicht gesund – im Umkehrschluss sind schnelle Auffassungsgabe und gutes Erinnerungsvermögen Indizien für eine gute Gesundheit. Auch emotionale Stabilität und Kreativität – etwa in Form künstlerischer Betätigung – zeichnen den rundherum gesunden Menschen aus.
Ganzheitlichkeit und Gegensatz zum westlichen Empirismus
Die beschriebenen Prämissen und ihre Verknüpfung mit psychischen und philosophischen Kriterien und Gedanken machen bereits den ganzheitlichen Ansatz des makrobiotischen Denkens deutlich: Ernährung wird – anders als im westlich-liberal verwurzelten modernen Rationalismus oder in der hiesigen empiristischen „Schulmedizin“ – ebenso wie auch andere physisch-körperliche Themen (wie etwa Sport, Fitness und Selbstverteidigung) nicht gedacht als etwas Isoliertes, für sich allein Stehendes, wissenschaftlich auf die Mikro-Ebene Reduzierbares, sondern als eingebunden in ein ganzheitliches Makro-System, in dem physische Zustände in einer Wechselwirkung stehen mit denen der Psyche, des Sozialen und des Spirituellen. In einer solchen Denkweise ist „Heilung“ immer nur denkbar als eine Disziplin, die sich all diesen vorgenannten Dimensionen gleichermaßen in erkennender Form zuwendet und sich ihrer annimmt. Wer sie isoliert betrachtet, wird das Problem niemals an der Wurzel angehen können, sondern sich lediglich in der bloßen Symptombekämpfung verirren.
Ohsawa verwendete in seiner Lehre eine Art negativen japanischen Abgrenzungsbegriff namens „Sanpaku“. Damit ist die Vorstellung von einem bestimmten Zustand der Augen eines Menschen gemeint, an dem sich äußerlich seine innere physisch-psychisch-spirituelle Disharmonie und damit Krankheit oder auch sein Altwerden ablesen lässt. Ohsawa sah diesen Sanpaku-Zustand unter anderem bei Marilyn Monroe und John F. Kennedy verwirklicht und fühlte sich durch deren tragische Biografien in dieser Vorstellung bestätigt (nicht zu vergessen an dieser Stelle: in der unitarisch-taoistischen Vorstellung, in der immer ganzheitlich beobachtet wird, stehen individuelle Krankheit und scheinbar von außen kommendes Schicksal nicht getrennt, sondern in spiritueller Verbindung zueinander).
Disharmonie und Krankheit im Westen
Als ursächlich für diese disharmonischen Zustände sah Ohsawa auch den westlichen Lebensstil: Insbesondere in den USA fand er das Sanpaku-Phänomen immer wieder vor. Zugleich sah er die eigentliche Ur-Sünde im Verstoß gegen die Naturgesetze und im Auflehnen gegen die „unveränderliche, uranfängliche Ordnung des Universums“, wie er es nannte. Man mag hier denken und kommentieren: Wenn Ohsawa diese Sünde bereits zu seinen Lebzeiten so diagnostizierte – wie würde er wohl die heutigen Zustände einordnen, in denen ganze Gesellschaften nicht nur in der Ernährung, sondern auch moralisch und sexuell in immer unnatürlichere Zustände verfallen? Ist es da noch ein Wunder, dass physische und psychische (Volks-)Krankheiten wie Allergien, ADHS, Burnout, Depressionen und allerlei Zwangsstörungen stetig zunehmen, bis hin zu psychischen „Explosionen“ wie Amokläufen? Ist es da noch verwunderlich, dass Gesellschaften sich lieber auf gentechnische, für nicht wenige Menschen hochgefährliche oder zumindest schädliche Impfungen verlassen anstatt auf ihr Immunsystem, dass sie keine Widerstandskräfte mehr gegenüber alten und neuen Viren aufweisen, die im Zuge von Globalisierung über die Menschheit kommen?
In der westlichen Industrie- und inzwischen Dienstleistungs- und Digital-Gesellschaft ist die disharmonische Verquickung von Biologie und Technologie zu jedermanns Alltag geworden. Chemie-Konsum ist für uns in vielerlei Hinsicht Alltag, ja sogar so sehr, dass die Mehrheit der Menschen dies selbst sogar kaum noch überhaupt bewusst zur Kenntnis nimmt. Hier ist der schlimmste Zustand des spätkapitalistischen Konsumententums in Zeiten von Postglobalisierung und Great Reset erreicht: Nämlich der, der unbewusst eintritt und weder zur Kenntnis genommen noch reflektiert wird. Faktisch jedoch bedeutet der Hauptteil dessen, was wir konsumieren – und dies ist im weiteren Sinne gemeint, also nicht nur in Bezug auf Ernährung, sondern auch in Bezug auf Wahrnehmung, etwa von Unterhaltung und digital-medialen Inhalten – für uns nichts anderes als Gift. Mediale Überreizung, Über- und Frühsexualisierung mit überzogenen und falschen Körperbildern, Geschmacksverstärker, Chemieprodukte, auch und gerade etwa in der Kosmetik.
Faustische Haltung statt Unterwerfung
Auch diese kritischen Grundgedanken sind es, die die Lehre der Makrobiotik heute wieder zu einer hochaktuellen Idee machen und uns ihre Notwendigkeit ins Gedächtnis zurückrufen. Für Ohsawa gab es keinerlei „unheilbare“ Krankheit, weder physisch noch psychisch: Allein diese Vorstellung war für ihn mehr Ausweis menschlicher Überheblichkeit, die die Eigenverantwortung für das richtige Leben ausblendet.
Hierbei vertrat er – durchaus im konzeptionellen Gegensatz zu den autoritätshörigen monotheistischen Religionen Christentum, Judentum und Islam, die auf dualistische, also gut-böse-moralistische Unterwerfung setzen – eine „faustische“ Haltung, die mit dem europäisch-heidnischen Denken durchaus Gemeinsamkeiten aufweist: Nicht das flehentliche Beten führt zur inneren Gesundung, sondern die selbstreflektierte und konstante Meditation im Bewusstsein des göttlichen All-Einen. Auch gegenüber „harten“ medizinischen Eingriffen wie etwa der Chirurgie war er grundsätzlich skeptisch und sah sie nur für den äußersten Notfall geboten. Zunächst gilt immer die Aufforderung zur weitestmöglichen Selbstgesundung.
Klar ist: Ein makrobiotischer Ernährungs- und eben damit auch Lebensstil fordert dem Einzelnen einiges ab. Das Abwenden von Völlerei, von Alkohol, von übermäßigen Genussmitteln; zugunsten einer umfassenden und ganzheitlichen physischen, psychischen und spirituellen faustischen Verantwortung für das eigene Wohl; das innere Sortieren, das Sich-Einfügen in ein göttliches Ganzes, in dem alles mit allem verknüpft ist – einfach ist das nicht. Doch viele Anhaltspunkte und die innere Konsistenz des geschilderten Ansatzes zeigen auch auf: Es kann sich lohnen – für körperliche und seelische Gesundheit, für innere Reinheit und Harmonie als Kontrapunkt zu einer kranken Gesellschaft.