Kürzlich ging mir die Abendlektüre aus und ich entschied mich, in meinem Bücherregal nach etwas Altem zu suchen. Dabei fiel mir die alte Lutherbibel in die Hände, die ich seit dem evangelischen Schulunterricht besitze. Obwohl ich mich als agnostischen Atheisten sehe, der die Existenz eines Gottes als unbeweisbar und unwahrscheinlich betrachtet, habe ich stets ein Interesse an religiösem Glauben gehabt. Der Antrieb, die Bibel aus kulturhistorischem Interesse zu lesen, überwog schließlich.
Ein Bekannter meinte einmal, das Verständnis abendländischer Geschichte sei ohne die Bibel höchst unvollständig. Das Christentum habe die deutsche Geschichte stark geprägt, was sich in unserer Architektur, Feiertagen, Sprichwörtern, Namen, Ritualen, traditionellen Lebensmitteln, Literatur, Philosophie und Kunst widerspiegelt. Als junger Rechter, der Einblicke in europäische Traditionen und Vergangenheit gewinnen möchte, erschien mir ein Blick in die Bibel als unabdingbar. Mit Neugier und dem Bewusstsein, dass es eine Frage der Ausdauer sein würde, begann ich von Anfang an zu lesen, um zu verstehen, wie dieses Buch die europäische Kulturgeschichte so stark beeinflussen konnte.
Von Eden bis Euphrat: Die geographischen Grenzen der biblischen Weltanschauung
Was ich erst einmal vorfand, das ist das Alte Testament, beziehungsweise der Tanach. Das ist die Hebräische Bibel, die sich in die Tora (die fünf Bücher Mose), die Propheten und die Schriften (Sammlung verschiedener Texte) aufteilt. Mit den Büchern Mose beginnt also die Geschichte der Entstehung des „Judentums“ mit der Erschaffung des Menschen über die Geschichten der Stammväter, dem Exodus und der Landnahme Kanaans. Alte, langweilige Geschichten mag man denken. Doch ich versuchte, den Blick auf etwas anderes zu richten: Was mich direkt überraschte, ist wie spezifisch die Welt der damaligen Menschen beschrieben wird. Man kann direkt herauslesen, auf welchem Wissensstand die Menschen waren und wie tief sie spirituell in ihrem Heimatland verwurzelt waren.
Zu Beginn wird zum Beispiel geographisch spezifiziert, wo die von Gott geschaffene Welt anfängt und aufhört. Im Genesis 2 wird geschildert, dass Gott im Osten, in der Landschaft Eden, einen Garten anlegte. In Eden entspringe ein Strom, der sich in vier Ströme teile: Pischon, der um das Land Hawila fließe. Gihon, der um das Land Kusch (heutiges Äthiopien) fließe. Der dritte sei der Euphrat und der vierte der Tigris. Genau das waren die ungefähren Grenzen der den alten Hebräern bekannten Welt. In den Büchern Mose gibt es keine weiteren Erwähnungen von Orten jenseits dessen.
Spirituelle Landkarten: Antike Geschichten und moderne Sehnsucht
Je weiter man in der Bibel kommt, desto mehr bewunderte ich die tiefe spirituelle Verbindung zu Orten im Levante-Gebiet, wie Bet-El, wo Jakob von einer Himmelsleiter träumte, oder Beer Lahai Roi, wo Hagar von einem Engel besucht wurde. Diese Orte und Geschichten, die im Alten Testament beschrieben werden, zeigen eine starke kulturelle Tradition, die die Lebensweise und Geschichte der semitischen Völker über Jahrtausende hinweg festhält. Trotz der offensichtlichen Unterschiede zwischen den Traditionen dieser antiken Völker und den europäischen Kulturen, fasziniert es, wie die Bibel die Traditionslinie eines Volkes zusammenfasst, inklusive Abstammungsgeschichten, die bis in die Bronzezeit zurückreichen.
Das Alte Testament verbindet zahlreiche antike Völker mit den Hebräern, wie die Moabiter, Ammoniter und Edomiter, deren Existenz archäologisch belegt ist. Diese Verknüpfungen werfen Fragen nach der Glaubwürdigkeit der biblischen Geschichten auf. Doch selbst wenn diese Geschichten als Mythen betrachtet werden: Stellen wir uns mal vor, die europäische Kultur hätte ein ähnliches Werk vorzuweisen. Die Vorstellung eines europäischen Schöpfungsmythos, der ähnlich detailliert die Geschichten und Abstammungen europäischer Völker erzählt, lässt den kulturellen Wert solcher Überlieferungen in einem anderen Licht stehen. Ein Mythos, der von Germanen, Kelten, Slawen und ihren Göttern erzählt, von Heldentaten am Rhein oder Hexen am Brocken, würde einen unermesslichen kulturellen Schatz darstellen.
Deshalb ist die hebräische Bibel für Juden, unabhängig von ihrer Religiosität, mehr als ein Glaubensbuch; sie ist die Chronik einer ganzen Kultur. Diese Perspektive lässt uns die Bedeutung eines kulturellen Erbes erkennen, das tief in den Erzählungen und Mythen eines Volkes verwurzelt ist, und zeigt, dass Religion mehr sein kann als nur Glaube – eine Verbindung zu unserer Vergangenheit und Kultur.
Die harten Gebote des Alten Testaments
Was weiterhin jedoch sehr fremd in der Bibel anmutet, das ist der fanatische Reinheitsglaube. Das Alte Testament ist äußerst brutal und nichts für schwache Nerven. Mit Begriffen wie „ausrotten“ droht Gott mit schweren Strafen für diejenigen, die etwas vergehen, als wären sie eine Krankheit oder Ungeziefer: „Wenn ein Mann mit einer Frau während ihrer monatlichen Blutung schläft, machen sich beide schuldig und müssen aus ihrem Volk ausgerottet werden“ (Levitikus 20:18).
Radikale Maßnahmen, die vollkommen übertrieben wirken, tauchen stets auf, um diejenigen aus dem Volk zu eliminieren, die ein wichtiges Gesetz der Reinheit missachten: „Wenn die Tochter eines Priesters eine Prostituierte wird, entweiht sie ihren Vater und muss verbrannt werden“ (Levitikus 21:9). Ausrotten, Ausstoßen, Verbrennen; alles Begriffe, die man eher mit dem Entledigen von Schädlingen assoziiert. Doch in der Welt der alten Hebräer eine Norm. Auch das Verheiraten mit anderen Völkern wird kritisch betrachtet, im Buch Nehemia schließlich ganz verboten. Das Volk Gottes solle Kultur und Glauben nicht verlieren. Der Prophet Nehemia sprach zu den Judäern, deren Mischehen-Kinder kaum noch die judäische Kultur und Sprache kannten: „Ihr dürft eure Töchter nicht mit ihren Söhnen verheiraten und von ihren Töchtern keine als Frau für euch oder eure Söhne nehmen!“ (Nehemia 13:25).
Ob man es sich eingestehen will oder nicht, aber falls entsprechende Passagen im gelebten Judentum ernstgenommen und auch auf andere Völker übertragen werden sollten, dann handelt es sich bei dieser Religion um einen Kult, der einem Homogenitätswahn frönt, der durchaus mit rassenhygienischen Ansichten vergleichbar wäre. Die Begründung Nehemias, dass die Mischehen mit Götzendiener-Völkern zwangsweise zu einem Verlust der jüdischen Kultur führen würden, ist ja durchaus nachvollziehbar, aber für ein friedliches Zusammenleben mit den Nachbarn nachteilhaft.
Berggott von Sinai: Die Transformation Gottes
Da kommen wir zur nächsten Auffälligkeit, die mich neugierig machte. Gott ändert seine Daseinsform und wird fortschreitend unterschiedlich beschrieben. Es lässt sich sogar mit viel Nuanciertheit und Kontextwissen die Entstehung des JHWH-Kultes im Alten Testament herauslesen. Der eine Gott tritt auffällig oft als eine Entität auf, die mit Bergen und Gewitter assoziiert ist. In Genesis 22 wird erzählt, wie Gott Abraham befiehlt, seinen Sohn Isaak als Opfer auf einem der Berge im Land Morija darzubringen. Oder Exodus 19:16-19: In dieser Passage wird beschrieben, wie der Berg Sinai von Donner, Blitz und einer dichten Wolke umhüllt ist, während JHWH auf den Berg herabkommt. Diese Darstellung von Naturphänomenen in Verbindung mit der göttlichen Präsenz kann als Hinweis auf einen Gewittergott gedeutet werden.
Im Exodus-Text steigt Mose auf den Berg Sinai, und die Herrlichkeit des Herrn erscheint wie ein verzehrendes Feuer auf dem Gipfel des Berges. Die bekannteste Bergbegegnung ist sicherlich die von Mose auf dem Berg Sinai, wo er die Zehn Gebote erhält (Exodus 19-20). Als die Israeliten aus Ägypten geführt werden und Jahrzehnte lang in Zeltstädten leben, führt JHWH die Menschen in Form einer Wolke an (Exodus 13:21-22). In 1 Könige 20:23-29 glaubt der feindliche Syrerkönig, dass der Gott der Israeliten ein Berggott sei und in der Ebene keine Macht habe. All diese Auffälligkeiten stützen die These, dass JHWH wahrscheinlich ganz ursprünglich als Gewitter- und Berggott verehrt wurde und die Hauptgottheit der im Hügelland lebenden Hebräer war.
Von Polytheismus zu Monotheismus: Die kulturelle Evolution der alten Hebräer
Archäologische Befunde sollen zeigen, dass sich die alten Hebräer ethnisch und weitestgehend kulturell nicht von den anderen Kanaanäern unterschieden haben. Gleiche Sprache, Sitten und Götter, jedoch unterschiedliche Lebensweisen: Die Hebräer als Halbnomaden im Hügelland, die anderen städtisch in der Ebene. Es ist gut möglich, dass sie alle anfangs die gleichen Götter verehrten, sowohl Baal, Astarte, Moloch und JHWH. Der JHWH-Kult schließlich setzte sich erst als Monolatrie (Verehrung EINES Gottes aber Zugeständnis, dass es noch andere Götter gibt), dann als Monotheismus durch und ging militant gegen die anderen Kulte vor. So wie es in der Landnahme Kanaans beschrieben wird.
Dafür spricht, dass noch relativ lange im Alten Testament den anderen „falschen“ Gottheiten zwar Falschheit zugesprochen, tatsächliche Macht jedoch nicht abgesprochen wird (Monolatrie). Das zeigt sich in 2. Könige 3, als die Israeliten die Stadt des Moabiterkönigs belagern und dieser aus Verzweiflung seinen Sohn dem Moabitergott opfert. „Da kam der Zorn des Moabitergottes über die Männer Israels, sodass sie die Belagerung abbrachen und in ihr Land zurückkehrten“.
Von Nomaden zu Nationen: Die Suche nach Heimat und Gerechtigkeit
Die alttestamentliche Geschichte offenbart ein tiefenpsychologisches Motiv: das Streben nach Heimat und die Überwindung halbnomadischer Wurzellosigkeit. Abraham erhält das Versprechen eines Landes „von Milch und Honig“, in dem seine zahlreichen Nachfahren ein starkes, sesshaftes Volk bilden sollen. Diese Sehnsucht nach einem festen Zuhause und die Abkehr von der Unsicherheit des Nomadenlebens ziehen sich als roter Faden durch die Bücher Mose. Die Bedeutung von Nachkommen, insbesondere männlichen, zur Sicherung der Zukunft und die heilige Aufgabe des Kindergebärens werden betont. Ehre und Loyalität sind zentrale Werte; Ehrverletzungen führen zu drastischen Vergeltungsmaßnahmen, wie die Blutrache der Söhne Jakobs für die Vergewaltigung ihrer Schwester zeigt.
In einer Zeit ohne staatliche Ordnung war Selbstjustiz die Norm, was Unsicherheit mit sich brachte. Die Suche nach einem einzigen, autoritären Gott, der klar und unmissverständlich Recht spricht, kann als Antwort auf diese Unsicherheit verstanden werden. Mit den Rechtstexten im Levitikus endet die Zeit der Selbstjustiz; es werden klare Regeln und Strafen für alle festgelegt, was die Gleichheit vor Gott unterstreicht. Selbst Könige sind nicht ausgenommen, wie die Geschichte von David zeigt, der für das Fremdgehen mit dem Tod seines Sohnes bestraft wird. Diese strikte Gleichheit vor dem Gesetz unterscheidet die biblischen Erzählungen von vielen anderen Kulturen, in denen Könige gottgleich und über dem Gesetz stehend dargestellt werden. Die Bibel hebt sich durch ihre Betonung der menschlichen Gleichheit und die Ablehnung der Vergöttlichung von Menschen (Jesus mal ausgenommen) ab, was sie zu einem einzigartigen Werk ihrer Zeit macht.
Gottesvolk, Migration und die Schlacht ums Gelobte Land
Die Anfälligkeit des halbnomadischen Lebens, in Sklaverei oder Verbannung durch einen feindlich gesinnten König zu gelangen, der aufgrund seiner Sesshaftigkeit über Militär und überlegene Ressourcen verfügt, sollte ein Ende nehmen. Diese Angst und Identitätskrise finden ihren Apex in der Geschichte der Sklaverei in Ägypten, die Gott durch Mose final beendet und sein Volk in das gelobte Land führt.
Doch leider lebten dort bereits Völker, nämlich die sesshaften Verwandten der Hebräer: Edomiter, Jebusiter, Kanaaniter, Hiwiter, Philister und wie sie alle heißen. Gott möchte sie und ihren Götzendienst auslöschen und dafür sein gepriesenes Volk ansiedeln. In Deuteronomium 7, 1-2 befiehlt Gott den Israeliten, die sieben Völker in Kanaan zu vernichten. Er warnt sie davor, einen Bund mit ihnen zu schließen oder Gnade zu zeigen. Und so passiert es auch. Das Buch Josua und das der Richter ist ein einziges Massaker an der einheimischen Bevölkerung.
Ob das wirklich so geschehen ist, weiß niemand, aber es zeigt, wie rigoros der Wille zur Macht und Verwurzelung der Hebräer gewesen sein muss. Hier zeigt sich das ewige Spiel, das sich auch auf heutige Zeit übertragen lässt; nämlich welche Konflikte unweigerlich aus Massenmigration resultieren. Laut der Bibel hatte der Exodus der Israeliten solch verheerende Folgen für die einheimische Bevölkerung, dass es zur Vernichtung ganzer Volksgruppen kam. Dass durch die Migration ganzer Volksgruppen ansässige Bevölkerungen unweigerlich leiden müssen, zeigt die Exodus-Geschichte ironischerweise sehr anschaulich.
Fazit: Die fragliche Bedeutung der Geschichten für den faustischen Europäer
Ich empfehle jedem Geschichtsinteressierten, einen Blick in dieses Fundament der abendländischen Geschichte zu riskieren. Wer jedoch abenteuerartige Heldengeschichten und einen ausgetüftelten Spannungsbogen erwartet, sprich, die Bibel aus Unterhaltungsinteresse liest, wird keinen Spaß haben. Die Bibel zieht sich über lange Teile auch nur wie trockener Kaugummi und driftet ab in poetisches Geschwafel, ohne einen Handlungsstrang zu verfolgen. Ein profundes Interesse an der Bibel sollte also definitiv mitgebracht werden.
Wer sich als Christ sieht, sollte einmal den Fokus vom Neuen Testament zum Alten schwenken. Selbst die für das Christentum relevantere Jesusgeschichte nimmt ja stets Bezug auf die alten Schriften, die Abstammung zu David und die Kultur des Judentums. Denn man muss konstatieren, dass diese Religion, vor allem aus heutiger Perspektive, nur sehr wenig Berührungspunkte mit den faustischen Europäern hat. Wer nicht in der Region der Levante oder dem nahöstlichen Kulturkreis lebt, kann eigentlich recht wenig mit der in der Bibel gelebten Kultur anfangen. All die Namen, Begriffe, die Naturräume und die Lebensweise dieser Menschen muten höchst fremdartig und exotisch an. Was haben wir mit Nomadentum, Oasen, Dürren, Heuschreckenplagen, Pharaonen, Zeltstädten, Tempeln, Wüsten, Löwenangriffen, Kamelen, Propheten, fanatischen Reinheitsgeboten und all den anderen im nahöstlichen Kulturkreis auftretenden Phänomenen zu tun?