Wenn ihr den Stoff nicht kennt, lest den ersten Teil des Artikels und im Anschluss den Roman bzw. schaut die Verfilmung von 1956. Danach geht es hier weiter.
Dass der Artikel ein Zweiteiler wird, war nie geplant, bis ich bei meiner Recherche auf einen Aufsatz von Katja Mellmann über die Entstehung des Romans stieß und was sie aus den Korrespondenzen zitiert, hat mich verblüfft und zum Nachdenken angeregt.
Die Inspiration, die das Werk vom Nibelungenlied erfahren hat, ist offensichtlich. Mir war aber nicht bewusst, dass es von Anfang an der Versuch war, Teile des Nibelungenlieds auf das Dorf zu verlegen und sogar der Arbeitstitel „Dorfbrunhild“ lautete. Mit diesem Wissen können wir viele Szenen wiedererkennen. Doch die überraschendste Entdeckung ist, dass Wilhelmine von Hillern folgerichtig auch nur ein Ende vorgesehen hatte: Ein tragisches.
Rodenbergs drängen zu einem guten Ende
Ihr (jüdischer) Verleger Julius Rodenberg, Gründer der „Deutschen Rundschau“, war von dem Manuskript hellauf begeistert, doch er drängte sie dazu, das tragische Ende durch ein „Happy End“ auszutauschen. Lesen wir also, was er schrieb und wie er es begründet:
„Ich glaube, daß es der tragische Schluß ist, der Ihnen den Eindruck verdirbt, nach dem Sie den sympathischen Antheil der Leser bis zu einem gewissen Punkte stets wachsend u. wachsend erhalten haben. Dieser Punkt ist die Katastrophe von dem Moment an, wo Vincenz sich anschickt, die Schande Wallys an Joseph u. sich selber zugleich zu rächen. Gegen alles Diß habe ich Nichts vorzubringen, es ist vielmehr eine ganz vortreffiche Wendung; aber sie darf keinen tödtlichen Ausgang nehmen. Davor sträubt sich ebenso mein sittliches als mein ästhetisches Gefühl u. ich begreife auch nicht, wie Sie nach Ihrer ganzen Anlage dazu gekommen sind, die nothwendig nur zu Einem Ende jenem glücklichen Ende führen konnte, welches banal ausgedrückt, daher lautet: Joseph u. Wally kriegen sich. Der Leser hat ein Recht Diß zu erwarten; das Gegentheil ist nicht nur grausam u. verletzend, sondern auch – was noch schwerer wiegt – unmotivirt.
Ich kann mir wol denken, welche Gedankenfolge Sie zu diesem Schluß geführt hat: die Analogie der Nibelungen; aber Sie vergessen, daß das Heroische, wenn es in unsre modernen Zustände übersetzt wird, einen innersten Zug derselben annehmen muß u. in seinem Wesen selbst sich dadurch verändert – was dort tragisch wirkt, wirkt hier abstoßend u. erscheint brutal! Diesen Vorwurf kann ich der Version, wie sie da vor mir steht, nicht ersparen u. ich glaube vorauszusehen, daß Sie sich dadurch den letzten u. entscheidenden (weil bleibenden) Eindruck Ihres sonst so herrlichen Werkes zerstören werden. Warum soll es nicht harmonisch ausklingen, statt dieses gräßlichen Misklangs? Warum wollen Sie nicht einen freundlichen Ausblick in die Zukunft der Beiden eröffnen, die doch wahrhaftig keine Schuld auf sich geladen, eine Brunhild; u. dann – wo bleibt die Rache für Siegfried-Joseph? Etwa dieser armselige Vincenz, der in’s Zuchthaus kommt? Nein, das ist kein Schluß. Ueberhaupt – Mord, Selbstmord u. Zuchthaus, das ist ein bischen zu viel für unsre modernen Nerven.
Hören Sie also meinen Vorschlag. Bis gegen den Bogen 46 fn kann Alles bleiben, wie es ist – Sie sehen, liebe Freundin, ich mache Ihnen nicht einmal viel Arbeit. Von da ab jedoch muß die Sache eine andere Wendung nehmen. Joseph stirbt nicht – die Wunde war nicht tödtlich – unter Wallys Pfege genest er wieder. Sie ist es gleichsam, die ihm das Leben wiedergiebt, nachdem sie alle Schrecken u. Schauer des Todes vorahnend gleichsam durchgemacht. Darin muß die Versöhnung liegen, in der Verzweifung u. Hoffnungslosigkeit am Bette des Kranken. – den sie lange für einen Sterbenden hält – als er dem Leben wiedergegeben ist, da gehört er zugleich ihr – u. damit ist Alles gesagt! Vincenz braucht nicht auf’s Schaffot oder ins Zuchthaus, Wally sich nicht vom Felsen in’s Wasser zu stürzen u. was Afra betrifft, so können die beiden Glücklichen sie zu sich nehmen. Ein schwererrungener, aber wolverdienter Friede breitet sich nun über den Schluß des Ganzen aus u. Jeder wird Ihnen dankbar dafür sein!“
Ein schwerwiegender Eingriff
Hier beschreibt er fast haargenau den Abschluss, wie ihn der Roman bekommen hat. Doch Wilhelmine von Hillern war nicht begeistert, sondern sträubte sich dagegen. Ein weiterer Bekannter riet ebenfalls zu einer Änderung und Rodenberg musste ihr sogar versprechen, sie im Zweifelsfall bei negativen Kritiken zur Seite zu stehen, ehe sie begann, das Ende umzuschreiben. Und auch das klingt nicht überzeugt, sondern als habe sie es sich mühsam abringen müssen:
„Ich habe nun den Schluß fertig. Viermal habe ich ihn umgearbeitet u. jedesmal wurde er schlechter.“
Der Erfolg mag Rodenberg Recht geben, aber mir geht die Ahnung nicht aus dem Kopf, dass die Geierwally damit verfälscht wurde. Wilhelmine von Hillern schien eine besondere Eingebung gehabt zu haben, als sie den Stoff zu Papier brachte. Darf ein Verleger so in das künstlerische Schaffen hineinregieren? Von der Thymos-Redaktion aus haben wir bei Artikeleinsendungen auch immer wieder Änderungswünsche, damit die Texte besser werden. Aber kleine Artikel sind etwas anderes als die Schlüsselstelle eines Romans!
Gerade weil wir die Geierwally über die Seiten hinweg liebgewinnen, muss das tragische Ende ein Stich ins Herz gewesen sein, der bleibenden Eindruck hinterlässt. Und liegt nicht in ihrer Liebe zu Bären-Joseph, den sie kaum kennt, etwas krankhaftes? Nicht umsonst weiten die Filme die Beziehung zwischen den beiden aus.
Sollte die Botschaft nicht sein, dass wer sich von solchen Leidenschaften verzehren lässt, schließlich von ihnen in den Abgrund gezogen wird? Das wir im Leben nicht immer alles bekommen, was wir uns wünschen? Erinnern wir uns an die Drohung Murzolls aus ihrem Traum: „Du lehnst dich auf wider Mensch und Götter – Himmel und Erde werden dir feind sein! – Weh dir!“
Warum eine Tragödie passt
Von dem Handlungsbogen und den Eskalationen orientiert sich das Werk an der klassischen Tragödie, was auch wenig verwundert, denn Von Hillern war Theater-Schauspielerin und die Form muss ihr ins Blut übergegangen sein. Walley bricht auch nicht zu einer Heldenreise auf, sie wartet auf Joseph!
Überhaupt, Geier stehen symbolisch für Tod und Vergänglichkeit. Die Idee mit dem ausheben des Nestes hatte sie bekanntlich von einer Erzählung über Anna Stainer-Knittel, doch die holte einen Adler aus der Wand und keinen Geier.
Nun zu der Schlüsselszene selbst: Als sie die Schüsse hört und zu Vinzenz sagt, dass sie bloß in einer Aufwallung ihrer Gefühle dahergeredet hat, ist das zwar ein typischer Frauenmoment, aber passt er auch zu einer Brunhild? Schließlich muss sie davon ausgehen, dass er mit der Zurückweisung und dem Lächerlichmachen all ihre Träume zerschmettert hat.
Auch die Argumentation Rodenbergs überzeugt mich nicht. Es braucht keine Rache von Afra, weil sie zwar in Teilen die Rolle Kriemhilds übernimmt, aber eben keine Kriemhild ist. Sie heiratet auch nicht Joseph, sondern ist seine Halbschwester. Nein, von Hillern hat nur zwei Figuren in ihrer Größe in die dörfliche Welt übertragen und das sind Siegfried und Brunhild. Das macht ja die Genialität des Romans aus, dass es eine kreative Neuinterpretation ist und keine plumpe Kopie. Und warum sollte man den modernen Menschen kein tragisches Ende mehr zumuten können? Spricht da nicht mehr der Verkäufer, der die Masse kennt, als der Künstler, der den Menschen emporheben möchte?
Wie es hätte sein sollen
Ob das Publikum einen tragischen Abschluss angenommen hätte, werden wir leider niemals erfahren. Das ursprüngliche Ende scheint verloren gegangen zu sein, aber von der Tocher Hillerns haben wir Erinnerungen, wie es gewesen war. Werfen wir also zum Abschluss einen Blick auf die Ur-Geierwally:
„Die Geierwally hieß ursprünglich: die Dorfbrunhild. Und das Ende derselben war ein tragisches. Vincenz bringt Wally den Joseph, den er erschossen, aber nicht in den Abgrund gestürzt hat, vor die Schwelle ihres Hauses geschleppt, er ist noch nicht tot, nur bewußtlos, sie läßt ihn ins Haus tragen und pfegt ihn – kalt, steinern, wie erstarrt, ohne Gefühl. Er erwacht noch einmal zum Bewußtsein, sagt ihr, daß die Afra seine Schwester sei und daß er auf dem Weg zu ihr gewesen sei, ihr das zu sagen und sie um Verzeihung zu bitten für den Schimpf, den er ihr zugefügt, und stirbt.
Jetzt erst ist Wally wie zerschmettert. Das Bewußtsein, daß Joseph unschuldig gemordet ist, daß alles noch hätte gut werden können ohne ihre übereilte Rache, wirft sie zu Boden. Sie schließt sich die Nacht durch in das Sterbezimmer mit Josephs Leiche ein und ist nicht zu bewegen zu öffnen. Mit den ersten Strahlen der Morgensonne rafft sie sich auf, schreitet durch die vor dem Hause versammelte Menschenmenge hindurch nach der Ache und stürzt sich in die Tiefe. Der Geier kreist dreimal über der Unglücksstätte, dann verschwindet auch er. Das Schlusswort ‚Das Gewaltige kann sterben, aber nicht aussterben‘ blieb jedoch auch hier unverändert.“
Der lesenswerte Aufsatz von Katja Mellmann findet sich hier.