Was in der Fantasie und damit in einer Fantasiewelt möglich ist, wird von den meisten Autoren des Genres nicht ausgereizt. Sie begnügen damit, klassische Figuren wie Zwergen, Elfen, Zauberern und Drachen in sich wiederholenden Kombinationen gegen- und füreinander auftzureten. Eine erfrischend andere Interpretation von Fantasiegeschichten liefert dagegen das Zamonien-Gesamtwerk von Walter Moers, für das ich hier eine eindeutige Leseempfehlung ausspreche.
Fantasie ohne Ende
Diese Geschichten spielen auf dem Fantasiekontinent Zamonien und sind inhaltlich lose verknüpft. Zamonien ist eine frühindustrielle Welt mit verschiedenen fantasiereichen Daseinsformen und Phänomenen. Moers schöpft seine Fantasie gänzlich aus, indem er eine ganze Armada von neuen Daseinsformen und Schauplätze erfindet und ihnen mit einfallsreichen Angewohnheiten, Gebaren und Aussehen Leben einhaucht. Dabei driften diese Figuren nicht selten ins Absurde ab, nicht zu Unrecht können die Bücher auch der Groteske zugerechnet werden. Auch versierte Fantasyleser werden hier mit ganz neuen Figuren und Ideen konfrontiert. Oft durchreist der Protagonist mehrere dieser Welten, anhand der sich eine Geschichte entspinnt.
Ebenfalls im Gegensatz zu anderen Fantasyliteratur kommen die Werke Moers‘ ohne unnötig deutliche und plakative Schilderung von Sex, Tod und Gewalt aus. Die Bücher haben es nicht nötig, den Leser durch solcherlei Schockerzeugung und platten Tabubruch bei der Stange zu halten.
Eine vielfältige Welt des Ethnopluralismus
Heimweh ist ein zentrales Motiv im Zamonien- Universum. Daran entstrickt sich ein kulturelles Leitmotiv und das ist eine in großen Teilen monokulturell strukturierte Gesellschaft, die mit und aufgrund von Ihrer Monokulturalität funktioniert. Vielen Protagnisten ist das Finden ihrer eigenen Gemeinschaft, in der sie unter ihresgleichen leben, eine zentrale Aufgabe, so wie dem Wolpertinger Rumo, der durch seine Intuition getrieben eine mit Wolpertingern bevölkerte Stadt finden und sich dort als Mitglied der Gesellschaft behaupten muss. Andere Protagnisten stehen nach getaner Arbeit endlich vor den Toren ihrer Heimatgesellschaft.
Die meisten Gesellschafften werden monokulturell entworfen: Lindwürmer leben auf der Lindwurmfeste, Fhernhachen und Fhernhachingen, Buntbären im Großen Wald. Zwar sind diese Orte keine hermetisch abgeriegelten Räume, doch ist die eindeutige Dominanz der heimischen Gruppe ein klares Gebot. Die verschiedenen Wesen lernen voneinander, kämpfen gemeinsam und tun sich mit ihren Fähigkeiten zusammen, aber nachdem ihre Aufgabe erfüllt ist, kehren die meisten dorthin zurück, wo sie in ihrer Gemeinschaft zuhause sind.
Auch im Zusammenleben in der großen Stadt Atlantis versuchen keine dieser Wesen sich in eine andere Gemeinschaft zu „integrieren“, sondern sie erfüllen auch dort ihre ihrem Wesen nach vorbestimmter Aufgabe: Wolertinger sind gute Kämpfer, Eydeeten sind extrem intelligent, Natiftoffen stellen in Städten aufgrund Ihrer Fähigkeiten die Politikerkaste, Hoawiefen sind fabelhafte Bäcker. Natürlich brechen immer wieder Wesen aus dieser vorgegebenen Rolle aus, wie der Hundling Colophonius Regenschein, der einen ihm nicht entsprechenden, brutalen Beruf als Bücherjäger wählt, allerdings sind dies die eindeutigen Ausnahmen.
Klassische Sage statt Revolution
Moderne Fantasy- oder Sci-Fi- Geschichten sind zumeist Revolutionsgeschichten. Buchreihen wie die Tribute von Panem oder Harry Potter spielen in einer Welt, in der ein ungerechtes System die Politik übernommen hat (oder übernehmen möchte) und diktatorisch und böse handelt. Der Hauptcharakter findet sich in der Rolle des Verantwortungsträgers für die Revolution wieder und verfolgt das Ziel, wieder eine gerechte Welt herzustellen. Böse Menschen sind stark und böse, weil sie böse sind und gute Menschen sind gut, weil sie gut sind. Und am Ende siegt natürlich das Gute.
Bei Moers sind die Geschichten dagegen wie Heldensagen aufgebaut. Man folgt einem Helden durch seine Geschichte, in dem er sich meist allein gegen mehrere widrigen Umstände durchsetzen muss. Im Gegensatz zu zahlreichen zeitgenössischen Fantasy-Komplexen entfaltet sich diese Geschichte aber nicht zum letzten Drittel hin zu einer Revolutionserklärung, in denen es wenige „Gute“ gibt, die die Armeen der „Bösen“ stürzen, um am Ende eine für alle bessere Welt zu schaffen. Wenn ein Protagonist am Ende eines Werkes einen Umschwung der Lebensverhältnisse auslöst, dann geschieht dies unabsichtlich und nebenbei, nicht, weil er von einer allumfassend höheren Moral getrieben ist, er handelt allein im Sinne von sich und seiner Gruppe.
Ambivalente Figuren
Eine weitere Eigenschaft, die die Werke aus der großen Fantasy-Suppe heraushebt, ist die immer wieder gelebte Ambivalenz von Figuren. Nur wenige Antagonisten werden nach dem typischen „böser Mann ist böse“- Schema entworfen. Die Haifischmade Volzutan Smeik zum Beispiel tritt einem Protagonisten positiv, einem anderen aber negativ gesinnt gegenüber, ohne, dass am Ende aufgelöst wird, auf welcher Seite er denn nun „wirklich“ stand. Es wird nicht versäumt, Antagonisten auch in Tiefe darzustellen, so wie Smeik, den Schrecksenmeister oder die Hellinge von Untenwelt. Trotz, dass diese dem Protagonisten klar gegenüberstehen, fängt man an, sie ob ihrer Fähigkeiten zu bewundern, ja, vielleicht sogar ein wenig mit ihnen mitzufiebern und sich zu fragen, wie es ausgegangen wäre, wenn sie an der Statt des Protagonisten die Geschichte für sich hätten entscheiden können.
Das heißt aber nicht, dass die Antagonisten dann nach dem postmodernen „Böser Mann ist böse, weil ihm selbst böses widerfahren ist“- Schema dargestellt, wie es zum Beispiel in Game of Thrones praktiziert wird, wo jedes erfahrene Unrecht das folgende entschuldigt und nur noch nihilistisches Brachland überbleibt, auf dem sich die Figuren bloß noch in ihrem Niveau an Grausamkeit voneinander unterscheiden. Moers‘ Ambivalenz der Figuren entschuldigt ihre Handlungen nicht, sie gibt ihrem Charakter lediglich mehr Tiefe und am Ende kann der Leser selbst entscheiden, wo er die Figur auf dem moralischen Kompass verorten würde.
Ebenso uneindeutig enden manche Geschichten. Man erfährt eben nicht „19 Jahre später“-mäßig, dass alles großartig ist, es gibt auch kein typisch amerikanisches Happy End, in dem am Ende alles und jeder gut ausgeht, sondern vieles wird offengelassen. Viele der Protagonisten machen sich am Ende ihrer Entbehrungen auf den Weg in ihre Heimat, und wir erfahren noch nicht mal, ob sie dort angekommen sind.
Traditionelles Handwerk
Ein weiteres Schmankerl sind die zahlreichen Schilderungen von traditionellem Handwerk: Jedes Werk schmückt an Stellen die detaillierte Beschreibung von Handwerksprozessen, z.B. die Schnitzerei in Rumo, die Alchemie und Kochkunst im Schrecksenmeister oder die Buchbindung in der Stadt der träumenden Bücher. Damit wird diese frühindustrielle Welt in nostalgischen Details zum Leben erweckt, und es macht Spaß, den Schilderungen zu folgen.
Referenzen auf deutsche Dichtkunst
Insbesondere an Herz legen möchte ich dem Leser dabei das Werk „Die Stadt der Träumenden Bücher“ und die Fortsetzung „Das Labyrinth der Träumenden Bücher“, wo immer wieder deutsche Dichter mit anagrammierten Namen und Referenzen auf ihre Angewohnheiten referenziert werden. Ein aufmerksamer Leser wird zahlreiche deutsche Lyrikgrößen in den Zeilen dieser Werke wiederfinden können. Auch aber als Nichtexperte für deutsche Dichtkunst sind diese Werke sprachlich ein Vergnügen. Moers kommt fast gänzlich ohne Anglizismen aus. Wörter werden eingedeutscht oder „zamonisiert“, also in teilweise ulkiger Manier verändert. Gerne wird mit Arithmetik, Orthografie und Dichtung gespielt, Worte neu interpretiert und Bedeutungen verdreht, jedes Werk enthält zahlreiche zamonische Wortneuschöpfungen.
Obwohl ich normalerweise immer das Selbstlesen empfehle, möchte ich auch den Genuss der von Dirk Bach gelesenen Hörbücher nahelegen (Es gibt die meisten Werke Moers‘ in seiner Lesung). Er versteht es genau, den verschiedenen Figuren und Kulissen durch Intonation eine besondere Lebendigkeit einzuhauchen. Die Zamonien- Werke von Walter Moers kann ich also jedem Patrioten und Fantasy-Liebhaber nur ans Herz legen als schöne, aber nicht platte Kunst mit einem traditionalistischen Augenzwinkern.