Gehören Sie zu den wenigen, die heute noch Bücher lesen? Ja, gehören Sie gar zu den wenigen Auserwählten, die sich nicht einfach nur elektronische Bücher auf ein digitales Endgerät ziehen, sondern das Gefühl von verarbeitetem Papier schätzen und daher von Zeit zu Zeit sogar eine Buchhandlung aufsuchen, um sich kundig zu machen, was es dort an neuen Verkaufsschlagern gibt?
Die Aura eines Buches
Denn im Gegensatz zum elektronischen Plagiat wohnt echten Büchern eine Aura von Kraft und Ruhe inne, die auch geboren wird durch die Art, mit ihnen umzugehen: Zumeist liest man entspannt, in einer stillen Umgebung. Mir zumindest fällt es schwer, beim Autofahren oder während einer schweren Einheit Kniebeugen noch die Opern Wagners zu schmökern.
Diese Aura der Ruhe versuchen Buchhandlungen selbstredend durch ihre Innenarchitektur nachzuahmen. Die Aura des Raums soll zum Angebot passen, und das sind keine lauten Ballerspiele, sondern schriftliche Kulturerzeugnisse. Doch fühlen Sie sich wirklich ruhig und entspannt, wenn Sie sich in den Regalreihen umsehen auf der Suche nach etwas Neuem? Können Sie wirklich zur Ruhe kommen unter all diesen modernen Büchern, die nur in der Absicht gestaltet, gedruckt und schließlich auch hier plaziert wurden, sich an Ihnen zu bereichern? Sind die dargebotenen Taschenbücher geeignet, dem Auge zu schmeicheln?
Die Bedeutung der Ästhetik
Ich habe schon einmal geschrieben, daß Optik nicht trivial ist und behaupte, daß die meisten sich – wie auch bei der Architektur oder dem Geschirr – gar nicht bewußt sind, wie nachhaltig die Wegwerf-Optik ihres Alltags das allgemeine Lebensgefühl beeinflußt.
Doch stellen Sie sich die folgende Frage: Wo wohnen die glücklicheren Menschen? Im Gründerzeitviertel des 19. Jahrhunderts oder in den Plattenbauten des Ostblocks? Und warum wohl? Wer zieht dort ein aus ästhetischer Überzeugung und nicht aus rein ökonomischer Notwendigkeit? Hat sich schon einmal ein Familienvater mit Einfamilienhaus und Garten geradezu schmerzlich nach einer Mietwohnung im Plattenbau gesehnt, weil ihm das noch zum Lebensglück fehlte?
Könnten die Dinge, mit denen wir uns umgeben, etwa Auswirkungen auf unsere Psyche haben? Die Muster, in denen wir denken, auf subtile Weise in die ein oder andere Richtung manipulieren? Ich halte es für an Arroganz grenzende Ignoranz, alle Effekte auszuschließen, nur weil man ihrer nicht bewußt ist – erst recht, da den meisten wohl der Vergleichsmaßstab fehlt.
Der Materialwert ist keine Rechtfertigung
Wenn man darüber nachdenkt, kann es nicht an den Materialkosten liegen, daß literarische Werke dieser Tage hauptsächlich in der billigst möglichen Form gedruckt werden.
Der Nikol-Verlag etwa bietet in stabiler Pappe gebundene Bücher bereits für knapp 4€ an. Selbst wenn man nicht davon ausgeht, daß dieser Verlag umsatzorientiert wirtschaftet: Wenn er nicht von außen finanziert wird, kann die Herstellung von in Pappe gebundenen Büchern nicht mehr als eben diese 4€ Euro kosten. Sehr wahrscheinlich liegen die Kosten deutlich niedriger. Nur um einmal die Preisspanne greifbar zu machen, von der wir reden.
Wenn ich dann daran denke, daß der Reclam-Verlag oft inhaltlich herausragende Werke anbietet, so wünschte ich mir oft, daß er noch vier Euro mehr in die Hand nimmt, um ihnen einen stabilen Einband zu verpassen. Dann soll er eben den Verkaufspreis um 4€ erhöhen. Ich für meinen Teil zahlte das gern. Und wenn die Bücher ohnehin bereits 18€ kosten und tausend Seiten lang sind, so fallen 4 weitere Euro wohl kaum ins Gewicht. 18€ oder 22€ – das ändert nichts an meiner Kaufentscheidung! Und man hätte dann eben ein Buch, das nicht nur durch seinen Inhalt besticht, sondern auch stabil und vor allem optisch ansprechend ist.
Billig ist der falsche Weg
Ich will das Buch nach dem Lesen nämlich nicht wegwerfen – schon gar nicht, wenn es einen zweistelligen Betrag gekostet hat. Hier finde ich das Konzept von Reclam, das billigst mögliche Buch für möglichst günstige Preise herzustellen, verfehlt, denn für 18€ ist das Buch einfach nicht mehr wirklich billig.
Und dabei ist Reclam noch ein Verlag, der die optische Gestaltung seines Angebots gekonnt vornimmt. Bücher in orange und gelb sind vielleicht nicht jedermanns Geschmack, aber wenn man von der Farbe absieht, sind die Einbandmotive stets von ästhetischer Zurückhaltung geprägt.
Bei anderen Verlagen gibt es aber auch Bücher, wo man den Eindruck hat, das Frontmotiv stamme aus einer Laserdisco und der Grafiker hätte mehr Arbeit gehabt als der Autor. Und dann gibt es noch die ganze Abteilung elektronischer Bücher, die das Buch noch stärker zur austauschbaren Wegwerfware reduzieren.
Eine Reise durch die Jahrhunderte
Vor hundert Jahren sahen Bücher ganz anders aus. Der Einband ist oft Leder, Halbleder und Leinen, häufig mit Goldprägung und aufwändigem Schnitt (Beschichtung der Seitenkanten). Auch ist der Buchdeckel keine Werbefläche für das Verlagslogo, sondern überzeugt durch eine so schlichte wie elegante Gestaltung.
Und gerade deshalb sehen alte Bücher so schön aus und alles andere als billig. Sie haben eine Umschlaggestaltung, doch ist diese nicht aufdringlich, wie es bei modernen Büchern der Fall ist. – Sie ist zeitlos klassisch. Muß man sich nicht freuen, so etwas in Händen zu halten?
Ich besitze einen Band aus dem Jahre 1853. Wenn ich nur daran denke, was dieses Buch alles miterlebt hat! Und auch wenn es mittlerweile behutsam angefaßt werden möchte, ist es mit seinen 170 Jahren weit davon entfernt, ein Fall für den Papierkorb zu werden. Im Gegenteil: Leimt man den Einband wieder sachgerecht zusammen, ist das gute Stück wie neu. So etwas kann man über Generationen vererben, und auf diese Art akkumuliert sich sukzessive der sozioökonomische Status der eigenen Blutlinie: Indem man auf der Leistung seiner Vorfahren aufbaut, und dies auch den eigenen Kindern ermöglicht – und nicht, indem jede Generation erneut bei Null anfängt. Das ist nett gegen die Verlage, aber nicht gegen die Familie. Taschenbücher sind billig für das Individuum, berauben aber die nächste Generation und damit die eigenen Gene des rechtmäßigen Erbes. Ist nicht das schon Argument genug, Qualitätsware zu erwerben?
Die alte Qualität bleibt unerreicht
Der Qualitätsverlust scheint dabei sukzessive vonstatten gegangen zu sein, dergestalt, daß das obere Ende der Verarbeitungsqualität immer weiter zurückging. Taschenbücher gab es auch im 19. Jh., doch in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s fing man schon an, auf Schnitt und Goldeinlagen bei gebundenen Büchern zu verzichten. Und heute?
Einen Goldschnitt haben heute vielleicht noch Bibeln oder kirchliche Liederbücher. Marmorschnitt gibt es praktisch nicht mehr. Und doch scheint dieser edelste und aufwändigste Schnitt vor hundert Jahren fast schon Normalität gewesen zu sein. Die meisten Bücher in Fraktur, die ich besitze, haben Marmorschnitt. Vielleicht sind mir auch nur die größten Prachtausgaben in die Hände gefallen, aber suchen Sie doch einmal nach modernen Ausgaben von Shakespeare mit Marmorschnitt. Ob Sie eine finden werden?
Freilich gibt es auch heute Bücher mit Leinen, Leder und Goldprägung. Doch ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß dies ebenfalls Billigproduktionen sind, die nur Hochwertigkeit simulieren. Dann blättert das Gold eben ab wie Glitzerstaub (wenn es nicht gar welcher ist), oder bei der Bindung des Buches sieht man deutlich die einzelnen Gehefte, die sich nie zu einem gleichmäßigen Block Papier verbinden wollten. Daß kein Schnitt vorhanden ist, verstärkt diesen Verdacht. Diese modernen Prachtausgaben sind in keinem Punkt besser als die alten, noch nicht einmal was den Schriftsatz angeht. Die alte Qualität erreichen sie nicht.
Heute enttäuschen auch die inneren Werte
Zumeist reicht der oberflächliche Eindruck, um einen Menschen in Gänze zu kennen, und auch bei Büchern scheint diese Regel zu gelten. Denn der Einband ist noch lange nicht alles, was man bei modernen Ausgaben kritisieren kann. Bei alten Büchern erscheint mir die Papierqualität durchgehend besser; die Seiten sind glatt und glänzen beinahe wie poliert; die Buchstaben sind gestochen scharf. Gegen diese Qualität wirken moderne Bücher wie auf poröses Löschpapier gedruckt.
Ich möchte auch den Inhalt dieser alten Werke loben, der nicht einfach nur hingerotzt ist, sondern oft von Fachmännern mit einem liebevollen Vorwort und ggfls. Kommentaren und Anmerkungen versehen wurde.
So etwa geschehen in der Autobiographie von Hoffmann von Fallersleben: Als ich feststellte, daß meine Ausgabe gekürzt ist, mußte ich erst genervt stöhnen, weil ich damit bisher nur schlechte Erfahrungen gemacht habe. Immer scheint sich ein Dilettant, ärgerlich darüber, selbst kein großer Autor zu sein, nun am Werke eines anderen auszutoben und einfach alles zu streichen, was ihm persönlich nicht gefällt. Oft wird das nicht einmal angegeben, und erst groteske Gedankensprünge im Fließtext wecken den Verdacht: Hier hat sich jemand zu schaffen gemacht.
Nicht so Hans Benzmann: Er markiert nicht nur alle Stellen, die er gekürzt hat, sondern erklärt auch, nach welchen Gesichtspunkten seine Kürzung vorgenommen wurde, und gibt sogar eine kurze Zusammenfassung der gekürzten Stellen wider! Ich muß sagen, daß ich diesen Mann nur durch das Lesen von Hoffmanns Biographie kenne, aber das reichte, ihn zu respektieren. Denn es ist klar: Dieser Mann war mit Herz bei der Sache!
Quo vadis?
Und das scheint mir das Zentrale zu sein, an dem es krankt. Daß Verlage in unserer vermaßten Zeit, die sich nurmehr am Durchschnitt orientiert und nicht am Wahren, Guten und Schönen, auch kaum eine andere Wahl haben, als ihr Angebot auf den Durchschnitt zu optimieren. Massen an Büchern für Massen an Menschen, und ständig wird Nachschub gefordert, weil die öden Seelen zu schnell abstumpfen.
Da bleibt keine Zeit für Herzblut und Engagement, weil der Durchschnitt das gar nicht zu schätzen weiß. Der will nur möglichst schnell und billig befriedigt werden. Die Optik paßt zum Inhalt des Buches: Effekthascherisch und flach, ohne den Hauch von etwas Dauerhaftem, Hochwertigem.
Allein, schon heute steht es jedem frei, der Konsum- und Wegwerfgesellschaft eine Absage zu erteilen. Man muß nicht vermittels eines einzigen Geniestreichs die ganze Welt retten. Statt mit der Macht bereits in Händen den Kulturwandel von oben herab erzwingen zu wollen, bietet es sich an, sein persönliches Lebensumfeld der persönlichen Utopie anzupassen. Das ist nicht nur glaubwürdiger; der gesellschaftliche Machtwechsel kommt ab einer kritischen Masse von Teilnehmern ganz von allein: Der Zeitgeist ist nun für alle sichtbar nicht länger im Einklang mit dem der Machthaber.
Im Gegensatz zu Zeitungen und Flugblättern ist das Buch zwar ein Produkt seiner Zeit, der Wert seines Inhalts jedoch zeittranslationsinvariant. Noch heute kann man Schriftsteller der Antike lesen und fühlt sich intuitiv angesprochen von dem Autor, der seit Jahrtausenden tot ist. Ein literarisches Werk ist fähig, die Grenzen der Zeit zu überbrücken. Wäre es da nicht angemessen, sie in ebenso dauerhaftem Gewand zu erwerben?