„Früher war alles besser.“
Wohl jeder, der ein bestimmtes Alter erreicht hat, wird feststellen, dass ihm dieser Satz über die Lippen gekommen ist – ungeachtet dessen, ob er in jungen Jahren noch felsenfest davon überzeugt war, keiner dieser alten Nörgler zu werden. Wenig verwunderlich also, dass die Unterhaltungsindustrie die nostalgischen Gefühle in der Bevölkerung aufgreift. Und warum sollte die Gaming-Branche da eine Ausnahme darstellen?
In der jüngeren Vergangenheit erschienen mit Ion Fury und Prodeus zwei Titel, die als gelungenste Vertreter des Genres der „Boomer-Shooter“ bzw. „Retro-Shooter“ gelten. Während ersteres Spiel vor allem atmosphärisch und mit popkulturellen Referenzen glänzen kann, ist Letzteres deutlich actiongeladener. 2023 gesellte sich Warhammer 40.000: Boltgun dazu.
Das ist gleich doppelt nostalgisch. Denn nicht nur sieht Boltgun aus wie ein klassischer Shooter aus den 90er Jahren, sondern beruht auf einem Brettspiel (Table Top) aus den 80er Jahren.
In der Fernen Zukunft herrscht Krieg
Im Science-Fiction-Setting der britischen Firma Games Workshop kämpft die Menschheit im fernen Jahr 40.000 in der gesamten Galaxis gegen ihre Feinde. Auch nur ein kurzer Überblick über alle Fraktionen (Subfraktionen, Subsubfraktionen und tatsächlich: Subsubsubfraktionen), die Hintergrundgeschichte, wichtige Charaktere und Waffentechnologie etc. würde den Rahmen dieses Artikels um ein Vielfaches sprengen. Wer mehr wissen will, darf sich gern auf Youtube umschauen – sollte dann aber mehrere Wochen einplanen.
Der Slogan des Spielherstellers ist wohl die beste Beschreibung des Settings. Denn dort heißt es: „In der Finsternis der Fernen Zukunft gibt es nichts als Krieg.“ Wo Star Wars ein klassisches Märchen ist, setzt Star Trek ganz auf den technischen Fortschritt und eine egalitäre Gesellschaft. Warhammer 40.000 (auch liebevoll 40k genannt) ist hingegen nicht schwarz und weiß, sondern bloß schwarz und noch schwärzer. Einen epischen Konflikt zwischen Gut und Böse, wie in der bekannten Sternensaga gibt es schlicht nicht oder zumindest nicht so, wie man es sich gemeinhin vorstellt.
Natürlich: Wer sich in die Hintergrundgeschichte begibt, der liest von strahlenden Helden, die Dämonen aus der Hölle bekämpfen. Allen voran vom übernatürlichen Halbgott, der der Imperator der Menschheit ist. Keine Frage: die dämonischen Horden sind das Böse an sich. Doch die Schilderungen über die edlen Krieger des Imperiums der Menschheit sind derart überzogen, dass man auch nur mit geringem geschichtlichem Allgemeinwissen schnell Parallelen zu der Propaganda totalitärer Systeme erblickt. Wer dann bereit ist, noch weiter in das Setting einzutauchen, blickt in tiefe Abgründe.
Düstere Helden
In der Galaxis leben Trillionen von Menschen – umso wertloser ist der da der Einzelne. Ein Planet, der den Befehlen des Hohen Senats zu Terra nicht nachkommt, muss mit der vollständigen Auslöschung durch ein Orbitalbombardement rechnen. Und die regulären Truppen des Imperiums werden ohne Rücksicht auf Verluste in immer neuen Angriffswellen verheizt. Wer mag, erkennt die Anleihen zur Roten Armee im Zweiten Weltkrieg.
Denn Regimenter von allen Planeten haben stets Kommissare in ihren Reihen, die einen fahnenflüchtigen Offizier auf der Stelle erschießen. Und die Eiskrieger vom Planeten Valhalla sind schon von ihren Uniformen erkennbar an die russischen Truppen im Winterkrieg angelehnt. Und doch gibt es im 41. Jahrtausend keine Wahl, denn die Menschheit befindet sich unablässig in einem galaxieweiten Abwehrkampf gegen ihre vielfältigen Feinde. Wer nicht kämpft, wird ohnehin ausgelöscht.
Wesentlich bessere Chancen, im Kampf zu bestehen, haben da die Space Marines, genetisch modifizierte und bestens ausgerüstete Krieger, die vom Imperator selbst abstammen. Es gibt über 1000 Orden dieser Elitesoldaten, von denen die Ultramarines die bedeutendsten sind.
In Boltgun steuert man Malum Caedo, einen solchen Ultramarine, auf dem Planeten Graia. Ihm stellen sich die Horden des Chaos entgegen. Unter ihnen die schwächlichen Kultisten, die nur mit leichter Ausrüstung in die Schlacht ziehen. Schwieriger zu besiegen sind da vor allem die abtrünningen Space Marines der Black Legion und diverse Dämonen. Obwohl es 18 verschiedene Gegnertypen gibt – also etwa so viele, wie man von einem Shooter aus den 90ern erwarten würde – bilden diese doch nur einen kleinen Ausschnitt der Chaosstreitkräfte ab.
Denn immerhin gibt es 9 Verräterlegionen der Space Marines und nur die Dämonen der dunklen Götter Tzeentch und Nurgle stellen sich Caedo in den Weg. Die Diener Khornes oder Slaaneshs fehlen gänzlich. Vielleicht wollte man den Spieler hier nicht zu sehr überfordern, doch natürlich könnte diese Lücke auch durch einen DLC geschlossen werden.
Schießen statt Erzählen
Eine Hintergrundgeschichte existiert – schließlich befindet man sich auf Graia, der schon im Spiel „Space Marine“ von 2011, bei dem man ebenfalls einen Ultramarine (aber einen anderen!) steuert, eine wichtige Rolle spielt – doch ist diese zu vernachlässigen. Neuere Spiele verfügen oft über einen dichtgetakteten Spannungsbogen, während bei Boltgun einige wenige Zwischensequenzen zwischen den Leveln eine Handlung eher simulieren.
Hier gilt John Romeros Credo, dass die Story in einem Videospiel so relevant sei, wie der Plot in einem Porno. Ganz klar steht der reine Spielspaß im Vordergrund. Manch einer mag bemängeln, dass ein Multiplayer-Modus gänzlich fehlt, aber seien wir ehrlich: Wer mit seinen Freunden heiße Matches will, der ist tatsächlich bei den modernen Titeln besser bedient. Mit geschätzten 10 Stunden Spielzeit hat man allerdings auch allein genug Freude daran, Dämonen zerplatzen zu lassen.
Auf den ersten Blick sieht Boltgun dann auch tatsächlich alt aus. Vor allem die Gegner, die als Sprites und nicht als Polygone auftreten, sind ein ungewohnter Anblick. Die Umgebung wirkt grobschlächtig, was allerdings zum Setting glänzend passt. Man muss schon genauer hinsehen, um zu bemerken, dass man ein wenig an der Nase herumgeführt wird. Das bereits genannte Ion Fury basiert auf der Build-Engine, also tatsächlich auf einem technischen Grundgerüst aus den 90er Jahren und läuft daher auch auf schwächerer Hardware.
Boltgun hingegen verlässt sich auf die moderne Unreal 4 Engine, kann also so manchen Computer in die Knie zwingen. Denn ein Retroshooter soll eben nicht aussehen wie damals, sondern so, wie das „damals“ in der Erinnerung aussah. Und Erinnerungen, besonders die schönen, können nun mal trüben. Dass die Grafik tatsächlich besser ist, als in den 90ern, zeigt sich vor allem an den Beleuchtungs- und Waffeneffekten. Auch die Farben sind herrlich kräftig und die Sprites und Levels trotz Retro-Optik erstaunlich schön in der Präsentation.
Gelichteter Kriegsnebel
Aber viel entscheidender: Die Sichtweite innerhalb des Spiels ist unbegrenzt. In den 90ern hätte ein dichter Nebel die freie Sicht versperrt oder die einzelnen Objekte wären schlagartig im Blickfeld aufgetaucht. Auch wer dem Charme der grobpixeligen Grafik erliegt, fühlt sich daher aus der Immersion gerissen, wenn er heute ein Spiel aus der damaligen Epoche nochmal spielen will. Doch wer bei Boltgun eine riesige Halle durchquert, kann immer bis ans andere Ende blicken. Und kilometerhohe Gewölbe gibt es im Spiel zuhauf. Sie verdeutlichen umso mehr, wie winzig der einzelne Mensch im riesigen Imperium ist.
Die archeo-futuristische gotische Architektur des Imperiums kommt in Boltgun deshalb gut zum Tragen. Die großen kathedralenartigen Repräsentationsbauten der HiveCity kommen damit ebenso zur Geltung wie industrielle Schmelzwerke, Generatorenräume und düstere Straßen. Die klare Sicht in den weitläufig gestalteten, aber eng geführten Levels trägt sehr zu Wirkung bei.
Die Boltgun ist nur der Anfang
Auch wird man vor allem später im Spiel aus allen Richtungen von Horden bestürmt. Das macht richtig Spaß und erinnert an Spielereihen wie Serious Sam – ist aber eigentlich ein Betrug am Spieler. Denn derart viele Gegner durfte man in den 90ern nur selten bezwingen. Das Leveldesign bleibt hinter heutigen Shootern eher zurück – aber der Vergleichsmaßstab sind eben Klassiker wie Doom, bei denen rein die Action im Vordergrund stand. Man wird also nicht mit dem Sammeln von BJ Blaskowicz’ Unterhosen, dem Abhören von Diktiergeräten oder dem Erkunden optionaler Nebengebiete belästigt. Die Soundeffekte wissen zu überzeugen. An den metallischen Schritten auf dem Boden lässt sich ermessen, dass Malum Caedo mit Servorüstung wohl mehrere 100 Kilogramm auf die Waage bringt.
Und was wäre ein Shooter ohne Waffen? Tatsächlich schöpft Boltgun hier aus dem Vollen. Zunächst stapft man nur mit einem Kettenschwert (sprich: Kettensäge) durchs verschneite Gebirge und findet schnell den namensgebenden Bolter, der in schneller Schussfolge explosive Geschosse abfeuert. Die Schrotflinte fühlt sich exakt so an, wie ihre Geschwister aus hunderten Shootern, die seit den 90ern erschienen sind. Im späteren Verlauf dann wird es umso exotischer. Waffen, die Plasma verschießen oder den Gegner unter seiner eigenen Gravitation kollabieren lassen, können auch die größten Dämonen wieder zurück in den Warp schicken.
Dem heutigen Spieler wird es nicht auffallen, dass man die Waffen nachladen muss, sobald das Magazin einmal leergeschossen ist. Das entspricht zwar der Realität, aber eben nicht dem Gaming-Erlebnis aus den 90ern, wo man aus einer Pistole schnell mal 100 Schuss abgeben konnte. Die Waffen haben verschiedene Profile, die die Regeln für Verwundungen und Rüstungen aus dem Brettspiel nachahmen. Das mag für Table-Top-Veteranen ein nettes Detail sein, die spielerischen Auswirkungen sind indes vernachlässigbar.
Jenseits des Goldenen Zeitalters
Doch gerade im üppigen Arsenal offenbart sich eines der größten Missverständnisse. Wer mit einem Volkite-Strahlengewehr in Sekundenschnelle die zentimeterdicke Rüstung eines Terminators zum Schmelzen bringt, der glaubt, eine hochmoderne Waffe in den Händen zu halten. Schließlich befindet man sich ja im fernen Jahr 40.000! Doch das Gegenteil ist der Fall.
Tatsächlich hatte die Menschheit ihren Zenit im dunklen Zeitalter der Technologie erreicht. Einer Zeit, in der Technik und Magie kaum zu unterscheiden gewesen waren. Der Aufstand von künstlichen Intelligenzen setzte diesem Zeitalter mit einem gewaltigen Vernichtungskrieg ein Ende, den die Menschheit nur knapp für sich entschied. Es dauerte dann noch Jahrtausende, bevor unter dem neu geschaffenen Imperium der Menschheit wieder ein neues Goldenes Zeitalter anbrach.
Doch dies war bereits im Jahr 30.000! Damals kontrollierte der Imperator weite Teile der Milchstraße und erschien unbesiegbar und auch dies war nur ein Schatten des einstigen Fortschritts. Denn viel von der Technik, die das Imperium nach wie vor nutzt, basiert auf Bauplänen und Artefakten aus diesem verlorenen dunklen Zeitalter. Doch ein wirklicher Neuanfang war der Menschheit nicht vergönnt.
Horus, einer der Söhne des Imperators, hatte sich schließlich den Chaosgöttern angeschlossen und mit ihm die 9 Verräterlegionen der Space Marines. Horus starb im Duell mit seinem Vater, der aus dem Zweikampf schwer verletzt als Sieger hervorging. Seit nunmehr 10.000 Jahren sitzt er auf dem Goldenen Thron, der ihn mehr tot als lebendig in einem immerwährenden Koma schlummern lässt. Er ist die Erinnerung an aber auch das Versprechen auf eine goldene Zeit, die eigentlich in der Vergangenheit liegt.
Futuristische Antiquitäten
Die Rüstungen und Waffen der Space Marines mögen zwar hochmodern erscheinen, letztlich sind sie jedoch Antiquitäten, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, weil das Wissen um ihre Herstellung längst vergessen oder nur einem kleinen eingeweihten Kreis zugänglich ist. Auch Malum Caedo gehört zum alten Eisen. Zum Einen gehört er der Veteranenkompanie seines Ordens an, in die nur die verdientesten Kämpfer aufgenommen werden. Und wichtiger: Er ist ein sog. „beaky boy“, trägt also einen Helm mit Schnabel. Der Kenner weiß sofort, dass es sich hierbei um die Servorüstung Mark 6 handelt, die schon Jahrtausende alt ist. Mittlerweile tragen Space Marines neue Modelle der Variante Mark 10.
Ob die Menschheit ohne ihren göttlichen Imperator im Kampf gegen die Feinde der Menschheit bestehen wird, bleibt fraglich. Sie zehrt von der technologischen Substanz der längst mythisch gewordenen goldenen Vorzeit, von den Errungenschaften besserer Zeiten, befindet sich auf einer Spirale nach unten und wirkt dennoch unglaublich futuristisch. Deshalb gibt die Vergangenheit, die eben einmal höher stehend war, auch die Hoffnung, dass eine bessere Welt wieder möglich ist; dass der Imperator beschützt… und mit seinen Söhnen eines Tages zurückkehrt. Doch es bleibt nur eine schwache Hoffnung.
Nostalgie und Modernität
Und gerade, dass anders als in bewährten Science-Fiction-Settings eben kein Happy End von vornherein feststeht, sondern allerseits Verfall herrscht, macht den Reiz des unheimlich düsteren Warhammer 40.000 aus.
Deshalb ist ein Retro-Shooter wie Boltgun wohl auch eine der gelungensten Möglichkeiten, dieses Setting als Videospiel zu präsentieren. Der Boomer-Shooter lässt uns nostalgisch an eine frühere, scheinbar bessere und goldenere Zeit des Genres und des Spielens allgemein zurückdenken, erspart uns aber all die technischen Limitationen und Probleme und versorgt uns mit all den kleinen Quality of Life-Verbesserungen der letzten 30 Jahre, sodass wir die Spielerfahrung genießen können, wie wir sie erinnern und nicht wie sie wirklich war. Sie bringt uns moderne Qualität mit dem Spielgefühl der Ästhetik der Goldenen Zeit.
Und so schließt sich der nostalgische Kreis. In Warhammer Boltgun steckt eben ein bisschen mehr „Früher war alles besser“, als es den Anschein hat.