Erst der Erfolg der Ghibli-Filme von Hayao Miyazaki schaffte es, dass Mangas und Anime auf dem deutschen Markt Fuß fassen konnten und heute ein fester Bestandteil unserer Popkultur geworden sind. Der Stein des Anstoßes zum internationalen Erfolg von Animes war ohne Zweifel Miyazakis Meisterwerk „Prinzessin Mononoke“, der damals noch als Geheimtipp galt, aber heute als DER Animefilm schlechthin gesehen wird.
Dabei kann man nicht einmal von einem Anime sprechen, denn so wie der Film aufgebaut ist, gleicht es eher einem Epos wie dem Nibelungenlied oder der Sage von König Artus. Es geht um eine Reise in die Phantastik, an die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fantasie, eine Geschichte über Verrat und Zerstörung, aber auch Liebe und Vergebung.
Die Handlung beginnt mit einem Fluch
Gegen Ende der Muromachi-Epoche leben in einem abgeschiedenen Bergdorf nordöstlich der japanischen Hauptinsel die letzten Angehörigen des Volks der Emishi, ein sagenumwobener Stamm japanischer Ureinwohner, die Anhänger einer alten Naturreligion sind, welche eines Tages von einem Dämon angegriffen werden.
Der junge Stammesprinz Ashitaka schafft es, den Angriff abzuwehren und den wütenden Dämon zu töten, der sich als wahnsinnigen Ebergott herausstellte. Doch wird dieser in den letzten Atemzügen des Ebergottes mit einem tödlichen Fluch belegt: „Du sollst meinen Hass spüren und leiden, wie ich gelitten habe.“
Später entdeckte die Schamanin des Dorfes, dass in dem Leichnam des Gottes eine faustgroße Eisenkugel steckt, die der Grund für dessen Leiden war und ihn in einen Dämon verwandeln ließ. Um sich von dem Fluch zu lösen, muss Ashitaka das Dorf verlassen und die Ursache des Leidens ergründen, nur dann hat er eine Chance auf Heilung. Selbst wenn es bedeutete, auf ewig ein Ausgestoßener seiner Sippe zu werden und damit sein Dorf zum Aussterben zu verdammen. Denn er war der „letzte Prinz“, der sein Dorf noch beschützen und anführen konnte.
Nach einer langen Reise trifft Ashitaka auf den buddhistischen Wandermönch Jigo, der ihm den entscheidenden Hinweis gibt, wo er die Antwort auf den Fluch, der auf ihm lastet, finden und wo er ein mögliches Heilmittel bekommen könnte. Weit im Westen, am Fuße eines Berges, gibt es eine Siedlung, die man die Eisenhütte nennt, die vor einem riesigen Wald liegt, wo der Gott des Waldes lebt, der alle möglichen Krankheiten heilen könnte.
Der junge Prinz machte sich auf den Weg, ohne zu wissen, dass er damit direkt in die Fronten eines Krieges zwischen den Göttern des Waldes, angeführt von der Wolfsgöttin Moro und deren Tochter San, bekannt als Prinzessin Mononoke, und den Menschen, angeführt von der geheimnisvollen Lady Eboshi, gerät.
Das östliche Herr der Ringe
Oft wird Miyazakis Film mit den Werken von JRR Tolkien verglichen, was durchaus nachvollziehbar ist. Als Inspiration für HdR orientierte sich Tolkien an den alten europäischen Werken, allen voran der nordischen Edda, der Artussage und der Geschichten von Beowulf. Ähnlich ließ sich Miyazaki aus den Kojiki (zu Deutsch: Die „Aufzeichnung alter Geschehnisse“) zu seiner Filmgeschichte inspirieren, in deren Haupthandlungspunkt die japanische Mythologie steht. So haben beide Werke einen gemeinsamen Wesenskern in der Mythologie und Spiritualität der jeweiligen Kulturen, wodurch sie sich gleichen, aber auch gleichzeitig grundverschieden sind.
In beiden Werken findet sich eine Ökologische-Botschaft wieder, zusammen mit einer Kritik an der Kriegsindustrie. Auch die Charaktere gleichen sich: So erscheint Ashitaka wie eine Mischung aus Frodo und Aragorn. Ein „Prinz“, der seine Heimat verloren hat, weil auf ihn ein Fluch lastet, den man sehr gut mit dem Einen Ring von Sauron vergleichen kann. San, die Wolfsprinzessin, gleicht Arwen, einem Wesen, das zwischen zwei Welten lebt und sich letzten Endes für eine entscheiden muss. Der opportunistische Wandermönch Jigo, der im ganzen Film damit verbringt, hinter dem Kopf des Waldgottes her zu sein und gleichzeitig alle Seiten gegeneinander ausspielt, kommt einem Gollum ziemlich ähnlich. Und Lady Eboshi und ihre Eisenhütte gleicht Saruman und Isengard.
Was aber beide Werke besonders miteinander verbindet, ist der wehmütige und nostalgische Unterton in der Geschichte, in der eine alte Ära zu Ende geht und die Protagonisten sich der Unsicherheit einer neuen Zukunft gegenüberstellen müssen. Bei JRR Tolkien wird das besonders in „Die Gefährten“ hervorgehoben, wenn Frodo, Sam, Pippin und Merry ihre Reise aus dem Auenland beginnen, durch den Alten Wald wandern, die Hügelgräber durchqueren, in Bree halt machen, die Wetterspitze betrachten, nach Bruchtal gelangen, von dort in Richtung Eregion marschieren, sich durch Moria kämpfen, um sich in Lothlorien auszuruhen, um zum Schluss zu den Wasserfällen des Rauros zu kommen und die Ruinen von Amon Sul, wo die Gemeinschaft sich dann auflöst.
Im Roman wie auch in der Peter-Jackson-Verfilmung spürt man diesen Nachklang, wie die großen Zivilisationen der Elben, Zwergen und Menschen zu Ende gegangen und nur noch Ruinen übriggeblieben sind, die einen wehmütig daran erinnern.
In Miyazaki „Prinzessin Mononoke“ erlebt man diesen Wehmut gerade durch Ashitaka, wenn er seine Reise nach Westen antritt, die sich wie das Kapitel „Der Ring geht nach Süden“ anfühlt, wo er traurig feststellt, dass die Menschen den alten Göttern mehr oder minder entwachsen sind und ihnen jede Art von Spiritualität und Naturverbundenheit abhandengekommen ist, so z.B. die Unfähigkeit der Bewohner der Eisenhütte und Lady Eboshi, die Schönheit des Waldes zu begreifen.
Gibt es das Böse bei Miyazaki?
Die meisten Kritiker weisen daraufhin, dass der größte Unterschied zwischen den beiden Werken darin besteht, dass Myasaki in seinem Film auf eine Schwarz-Weiß Darstellung verzichtet, wodurch der Konflikt nicht nach dem typischen „Mensch-gegen-Natur“-Muster einhergeht. So sind die Bewohner der Eisenhütte keine verdorbenen Orks, sondern zumeist verzweifelte Menschen aus den untersten Gesellschaftsschichten: Viehbauern, Minenarbeiter, Bettler, ehemalige Prostituierte, Banditen und Ronins, die allesamt als Gleichgestellte auf engstem Raum zusammenleben. Zusätzlich unterhält Lady Eboshi ein Hospiz für Leprakranke und pflegt diese persönlich.
In vielerlei Hinsicht könnte man die Eisenhütte als eine frühsozialistische Industriestadt bezeichnen, in der alle Männer und Frauen jedes Berufs und Standes gleichgestellt sind, wo die Menschen zwar arm sind, aber nicht hungern müssen. Genauso scheint es sich bei Lady Eboshi um eine wohlmeinende Anführerin zu handeln, die sich um die Armen, Kranken und Ausgestoßenen kümmert. Doch der Schein trügt: Dem aufmerksamen Zuschauer müsste aufgefallen sein, dass ein entscheidender lebensbejahender Faktor in der Eisenhütte komplett fehlt: Kinder.
In der gesamten Eisenhütte sieht man kein einziges Kind oder eine Familie mit Kindern. Im Film wird zwar ein verheiratetes Pärchen erwähnt, aber nirgendwo, dass sie Kinder haben. Das liegt daran, dass die Bewohner der Stadt zu beschäftigt sind zu arbeiten, dass sie für anderes keine Zeit haben. Dies macht die Eisenhütte zu einem sehr lebensunwerten Ort. Genauso erkennt man bei Lady Eboshi, dass sie alles andere als eine wohlmeinende Person ist: Sie ist zynisch, apathisch, arrogant, bis zur Soziopathie grenzend pragmatisch und durch und durch eine Materialistin.
Der Charakter von Eboshi
In ihrem Gespräch mit Ashitaka offenbart sie, dass sie vor nichts und niemandem Respekt hat. Kein Boden ist ihr heilig. Kein Sakrileg schreckt sie zurück. Für sie ist der Wald und die Berge nur eine Ressourcenquelle. Die Götter, die im Wald leben, sind für sie nur übergroße Tiere und selbst der Gott des Waldes ist für sie, im besten Fall, nur ein mögliches Heilmittel für ihre Leprakranken.
Selbst über den Tenno, den Kaiser Japans, macht sie sich lustig und verhöhnt ihn respektlos. In gewisser Weise ist ihr Krieg, den sie im Film führt, nicht nur einfach ein Krieg gegen die Götter des Waldes, sondern ein Krieg gegen die alte Ordnung.
Und ihren guten Taten, dass sie Prostituierte aus den Bordellen aufkauft, verarmte Viehbauern bei sich aufnimmt, dass sie sich um die Leprakranken kümmert, kann man als reinen Pragmatismus abtun. Die Bauern und die Prostituierten sind für sie nur billige und entbehrliche Arbeitskräfte und selbst die Leprakranken dienen ihr als Waffeningenieure.
Auch ist ihre Überheblichkeit, ihre Auffassung, niemanden Rechenschaft abgelegen zu müssen, ein weiterer fataler Charakterzug von ihr. So führt sie neben ihren Krieg gegen die Götter des Waldes auch eine Fehde gegen die örtlichen Samuraifürsten, weigert sich, Gespräche mit diesen zu führen, und feuert auf Gesandte von Friedensdelegationen. Im Grunde will Eboshi die Welt einfach nur brennen sehen.
In vielerlei Hinsicht gleicht sie mit dieser Weltsicht in der Tat Saruman, der am Ende auch nur noch „Metall und Räder“ im Sinn hat. Sowohl Saruman und als auch Eboshi sehen die Welt nur als Ressource, die es zu nutzen gilt. Sie brennen die Wälder nieder und zerstören die Völker in ihrer traditionellen Lebensweise. Eboshi kann man dabei als eine feministische, marxistische Sozialistin betrachten.
Die Schattenseiten des Waldes
Aber auch die Götter des Waldes kann man kaum als die Guten in der Geschichte bezeichnen. Die ganze Zeit über erscheinen sie arrogant, blicken auf die Menschen herab und scheren sich einen Dreck um ihre Nöte. In gewisser Weise ähneln sie einer Karikatur von Aristokraten des 19. Jahrhunderts, die nicht verstehen wollen, warum der Pöbel unter ihren Fenstern protestiert.
So verweigern sie Ashitaka jede Form von Hilfe, obwohl er ihnen stets mit Höflichkeit und Ehrerbietung begegnet. Einzig Moro und San waren bereit, Ashitaka zumindest zuzuhören, aber erst nachdem dieser sein Leben riskierte, um San vor einem wütenden Menschenmob zu retten und dabei tödlich angeschossen wurde.
Als Dank für ihre Rettung brachte San den tödlich verwundeten Ashitaka zu dem Versteck des Waldgottes, der wiederum entscheiden sollte, ob Ashitaka es verdiente weiterzuleben oder ob dieser sterben solle, an der Schusswunde oder den Fluch des Keilers, der zuvor der Schutzgott des besagten Waldes war, bevor ihn die Eisenkugel, die aus dem Gewehr von Lady Eboshi stammte, in einen Dämon verwandelte.
Aber letztendlich weigert sich selbst der Waldgott, den Fluch von Ashitaka zu nehmen und heilte lediglich die Schusswunde und verurteilt ihn zu einem wesentlich qualvolleren Tod. Selbst der Gott des Waldes will, dass er leiden soll, bevor er stirbt. Ist es daher so verwunderlich, dass die Menschen sich von den alten Göttern abgewandt haben?
Auf diese wunderbare Art und Weise des „Zeigen-nicht-erzählen“ schafft es Miyazaki, den Konflikt zwischen Mensch und Natur durch die Augen von Ashitaka von einem neutralen Standpunkt aus zu betrachten. Die Menschen sind nicht von Natur aus bösartig, noch ist die Natur, also der Wald, durch und durch gut und freundlich.
Warum ein Nationalepos?
In „Prinzessin Mononoke“ schafft es Miyazakis auch einem Außenstehenden einen Einblick in die japanische Volksseele zu geben. Einen Konflikt, in dem zwei verschiedene Welten aufeinandertreffen, mit unterschiedlichen Werten, die jedoch schon immer ein Teil des anderen waren.
Auf der einen Seite steht San, eine Vertreterin des alten Japans, für die Sehnsucht nach dem Spirituellen, vergleichbar mit uns Deutschen und unserem Wald. Auf der anderen Seite verkörpert Lady Eboshi den technischen Fortschritt sowie den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel.
Aber beide Seiten haben auch eine negative Kehrseite.
Trotz all der natürlichen Schönheit und Spiritualität kommt man nicht darum herum zu erkennen, dass das „alte“ Japan für Stagnation und Klassizismus steht, während die Eisenhütte, trotz der Vorzüge des technischen Fortschritts, Apathie und den Verlust des kulturellen Erbes mit sich bringt. Es ist der Dualismus zwischen Modernismus und Tradition, ähnlich wie man ihn im Nibelungenlied in dem Konflikt zwischen Siegfried und Hagen sehen kann.
Schlusswort
Letzten Endes verbindet beide Werke, dass man mit Wehmut in die Vergangenheit und mit Unsicherheit in die Zukunft blickt. Auch wenn in HdR am Ende der Ring zerstört wird, Sauron besiegt, Aragorn König und Arwen heiratet, bleiben die Narben, die Frodo erlitten hat, bestehen, die Elben verlassen trotzdem Mittelerde und die Zwerge bleiben eine zu Aussterben verurteilte Rasse. Mit anderen Worten: Es ist kein Happy End, sondern ein Neubeginn.
Genauso in „Prinzessin Mononoke“: Ashitaka und San können Lady Eboshi nicht daran abhalten, den Gott des Waldes zu töten oder verhindern, dass Jigo dessen Kopf stiehlt, worauf der kopflose Körper des Waldgottes einen Amoklauf beginnt, den Wald verrotten lässt und kein Leben verschonte, egal ob Mensch oder Tier. Kurz vor dem Niedergang gelingt es beiden, Jigo festzusetzen und ihm den Kopf abzunehmen, worauf sie ihn den Waldgott zurückgeben können.
Trotzdem haben sie den Tod des Waldgottes nicht verhindern können, doch in einem letzten Akt der Güte setzt der Gott des Waldes seine Kräfte ein, um dem Wald und den Menschen einen Neubeginn zu ermöglichen. In den abgebrannten Wäldern beginnen wieder junge Triebe zu sprießen, die Leprakranken der Eisenhütte werden geheilt, die Böden verwandelten sich in fruchtbares Ackerland und selbst Ashitaka wird endlich von seinem Fluch befreit.
Dennoch bleibt er den Rest seines Lebens von den Narben des Fluches gekennzeichnet und obwohl Ashitaka und San ihre Liebe zueinander gestehen, ist die Trauer für San, den sie um den Tod ihrer Mutter und den Waldgott empfindet, noch zu groß, um mit ihn zusammen leben zu können und beschließt daher weiterhin im Wald zu leben.
Ashitaka wiederum entscheidet sich, bei den Menschen der Eisenhütte zu leben, hofft so mit San in Verbindung bleiben zu können und bekommt gleichzeitig die Chance, den Bewohnern die Kultur, Traditionen und Lebensweise der Emishi näherzubringen. Sein Dorf wird er nicht retten können, doch kann er immerhin verhindern, dass die Emishi in Vergessenheit geraten. Wie in HdR bleibt die Zukunft ungewiss und die Geschichte wird weitererzählt.
Die Botschaft in beiden Werken ist, dass Veränderungen unvermeidlich sind und selbst Götter eines Tages sterben, aber man sollte sich stets seinen kulturellen und spirituellen Wurzeln bewusst bleiben und die Sitten und Traditionen seiner Vorfahren in wohlmeinender Erinnerung behalten.