In einer völlig verrückten Welt inszeniert manch ein resignierter Rückgradsloser die Begegnung mit einem Kinderbuch wie dem Struwwelpeter als den ganz großen Kulturschock. So altmodisch, so brutal und so schrecklich deutsch ist dieses Buch,- ein Fall für die Gedankenpolizei?
Bevor sich Anke Engelke nun daran macht, auch dieses Stück Kulturgut im Sinne der vegan-sozialistischen Wende umzuschreiben, sei dem Struwwelpeter ein eigener Artikel gegönnt, denn: Der Struwwelpeter von Dr. Heinrich Hoffmann ist ein wirklich schönes Kinderbuch, das viele von uns sicherlich noch aus ihrer eigenen Kindheit kennen und das eine Philosophie vertritt, die sich vielen heutzutage immer mehr zu entziehen scheint…
Entstehung
Als Dr. Heinrich Hoffmann im Jahre 1844 in Frankfurt auf der Suche nach einem Bilderbuch als Weihnachtsgeschenk für seinen dreijährigen Sohn war, muss es ihm so ähnlich ergangen sein wie manch Kulturpessimisten heute:
„Was fand ich? Lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und schlossen (…) Als ich nun gar endlich ein Foliobuch fand, in welchem (…) ein wahres Weltrepertorium, abgezeichnet war, (…) da war es mit meiner Geduld aus.“ Dr. Heinrich Hoffmann, Die Gartenlaube, 46/1871
Für unseren guten Herrn Doktor Hoffmann war also klar, dass er es in die eigene Hand nehmen musste. Stift und Papier waren schnell beschafft und so schuf er das kleine berühmt-berüchtigte Kinderbüchlein, welches später (und auch noch heute) zu den erfolgreichsten deutschen Kinderbüchern überhaupt gehören sollte. Der Struwwelpeter war geboren und erblickte das Licht der Welt nicht als große Publikation eines selbstgefälligen Geistes, sondern als bescheidenes Weihnachtsgeschenk eines liebenden Vaters für seinen kleinen Knaben.
Worum geht es?
Ehe wir zu den Geschichten der struwweligen Schlingel, zappelnden Philipps und daumenlosen Lutschern kommen, muss zunächst auch der berufliche Hintergrund des Autors beleuchtet werden. Mit Kindern und Bescheuerten kannte sich Dr. Heinrich Hoffmann nämlich sehr gut aus.
So entstanden, wie er selber schrieb, die meisten der kleinen Geschichten im Struwwelpeter im Rahmen seiner Tätigkeit als Kinderarzt. Fast vierzig Jahre war er zudem Direktor einer Irrenanstalt in Frankfurt,- damals, als sich die Irren noch nicht in der gesamten Innenstadt verteilten.
Der Struwwelpeter ist also eine kleine Sammlung von hauptsächlich bebilderten Kurzgeschichten, die von kleinen Textpassagen in Reimform begleitet werden. Jede dieser Geschichten stellt einen gewissen Archetypen von Menschen dar (vorwiegend Kinder), die aufgrund ihres entweder rücksichtslosen, gedankenlosen oder asozialen Verhaltens fatale Folgen erleiden.
Bei all der Leichtigkeit und vermeintlichen Oberflächigkeit bewies Hoffmann aber dennoch Scharfsinn. Denn er thematisierte damit nicht bloß willkürliche Anekdoten, sondern tatsächlich existierende pathologische Auffälligkeiten an verhaltensgestörten Kindern. Sein „Zappel-Philipp“ fand gar den Einzug in die medizinische Umgangssprache und beschrieb schon früh den Umstand der Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS) bei manchen Kindern. Der „Hans Guck-in-die-Luft“ wäre das verträumte Gegenteil und mit dem „Suppen-Kaspar“ entstand ein klarer Verweis zur Anorexie (Magersucht).
Der Struwwelpeter ist die Titelfigur, aber nimmt dabei nur die kleinste Rolle ein. Ein ungewaschener, ungekämmter Rüpel mit langen, ungeschnittenen Fingernägeln.
Kindeserziehung
Die korrekte und damit teils auch strikte Kindeserziehung war Hoffmann ein großes Anliegen. Ihm war bewusst, dass man nur dann zu einem funktionalen, verantwortungsbewussten und vernünftigen Menschen heranwachsen kann, wenn in der Kindheit die entsprechenden Weichen gelegt werden.
Dem Kinde jedoch sind moralische Phrasen, so gut und ehrlich sie auch gemeint sind, doch noch viel zu abstrakt. Um sich selbst und seinen Mitmenschen später kein Ballast zu sein, ist die Verinnerlichung des Nutzens von beispielsweise Ordnung, Körperpflege und Ernährung unabdinglich.
Der Struwwelpeter ist somit eine für Kinder sehr (be-)greifbare Veranschaulichung einer für das Leben notwendigen Selbsterhaltung. Heinrich Hoffmann war sich in diesem Sinne der Funktion von Scham als notwendigen Teil zur Ausprägung eines sozialen Immunsystems durchaus bewusst. Die Geschichten und Figuren im Struwwelpeter sind daher unterhaltende aber dennoch mahnende Negativbeispiele für kleine Kinder, die sich die Welt erst noch erschließen müssen und dessen Vernunft sich ihren Platz erst noch verschaffen muss.
Manch BRD konditioniertem Mittel- und Durschnittsbefähigten wird es trotz alledem schwierig fallen, die Schönheit eines Büchleins wie das des Struwwelpeters zu begreifen. Das führt uns zum Kern der Problematik unserer heutigen Gesellschaft und jener offenen Wunde, in die der Struwwelpeter und dessen vertretene Geisteshaltung seinen Finger hineinzubohren scheint.
Selbsterhaltung vs. Selbstauflösung
Dr. Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter spricht eine klare Sprache, und zwar die der Vernunft und der Selbsterhaltung. Dabei bezieht sich die Selbsterhaltung nicht nur auf jene bereits thematisierten Aspekte des persönlichen Lebens (Ordnung, Körperpflege, Ernährung), sondern auch auf die gesellschaftlichen Umstände und dessen, was mitunter notwendig ist um diese zu konservieren: Verstand, Anstand, Selbstrespekt und ein gesundes Selbstverständnis.
Der moderne BRD-Deutsche bewegt sich mittlerweile jedoch in einem kulturellen und gesellschaftlichen Kontext einer regelrecht fatalistischen Auflösungsdoktrin bezüglich seiner eigenen Kultur, Heimat und Demografie. Zusätzlich ist das Unvermögen zum wahrhaften Erwachsenwerden ein fast inhärenter bzw. notwendiger Bestandteil unserer sinnentleerten, postmodernen, industriellen Gesellschaft, die uns zwecks dessen fortwährender Existenz zu dressierten und systemkonformen Kindmenschen zu konditionieren sucht.
Das ideologische Betriebssystem ist dabei links determiniert: In dessen Folge herrscht ein Laissez-Faire aller Anstands- und Verantwortungslosigkeiten, welcher in jenen willkommenen erwachsenen Infantilismus führt, den wir heute überall erkennen können. Süffisante Negierungen oder übertriebene Abwehrreaktionen dressierter BRD Bürger gegenüber des Struwwelpeters gleichen somit häufig denen eines trotzigen und sich selbst überschätzenden Kindes, welches seine Herkunft und Geschichte schon viel zu lange durch die dekonstruktivistische Linse seiner niederträchtigen, ideologischen Vormünder betrachten musste.
Verloren gegangene (Volks-)Autonomie
Dabei entspringt der Struwwelpeter einer Zeit und Generation, in der ein Großteil notwendiger Überlebensstrategien noch darauf basierte ein weitestgehend autonomer Mensch zu werden. Eine Form der Autonomie, die uns im Zuge maschineller Massenproduktion, semi-sozialistischer Wohlfahrtstaaten, und materiellem Überschuss kaum mehr ein Begriff zu sein scheint, und von der „disneyfizierten“ und kulturrelativistischen Vision einer in Watte gehüllten Regenbogenwelt unerwünscht ist.
Der moderne westliche Mensch sozialisiert seinen Nachwuchs dementsprechend lieber mit unnützigen, antiautoritären Ersatzhandlungen und einer konstant infantilen Disneyästhetik. Eine entmannte und kastrierte Frequenz der Unterwürfigkeit und Weichheit, die seinesgleichen sucht.
Ästhetisch findet der gutmenschelnde Integratrionsprozess in die industrielle Gesellschaft später seine finale Gussform zum Globohomo in der dystopischen „Corporate Memphis“. Die kulturellen und ästhetischen Besonderheiten sowie die damit einhergehende Distinktion des westlichen (und vor allem deutschen) Menschen werden im Rahmen niederträchtiger, linker Gesellschaftsmythen zugunsten eines paternalistischen, Autonomie demontierenden Systems aufgelöst.
Fazit
Der Struwwelpeter bietet eine Möglichkeit, das uns verloren gegangen zumindest aus der Ferne zu betrachten und über unsere Entwicklung zu reflektieren. Wer den Struwwelpeter voreilig mit Phrasen wie „Tja, das waren andere Zeiten“ abtut, macht sich das meines Erachtens zu einfach.
Doch am Ende bleibt der Struwwelpeter schließlich ein Kinderbuch. Eignet sich das Büchlein nun auch heute für Kinder? Das müssen die Eltern freilich selbst entscheiden. Den Kritikern und Zweiflern wusste Hoffmann seinerzeit jedenfalls entschieden zu widersprechen und in diesem Sinne würde ich auch meine Einschätzung heute formulieren:
„Man hat den Struwwelpeter aber auch großer Sünden beschuldigt, (…) die Bilder als Fratzenhaft oft herb genug getadelt. Da hieß es: „Das Buch verdirbt mit seinen Fratzen das ästhetische Gefühl des Kindes.“ Nun gut, so erziehe man die Säuglinge in Gemäldegalerien oder in Kabinetten mit antiken Gipsabdrücken! Aber man muß dann auch verhüten, daß das Kind sich selbst nicht kleine menschliche Figuren aus zwei Kreisen und vier geraden Linien in der bekannten Weise zeichne und glücklicher dabei ist, als wenn man ihm den Laokoon zeigt.“ Dr. Heinrich Hoffmann, Die Gartenlaube, 46/1871
Hoffmanns Struwwelpeter wurde in rund 40 Sprachen übersetzt und ist mit seinen über 540 Auflagen weltbekannt. Ins Englische wurde das Büchlein unter dem Titel „Slovenly Peter“ von dem amerikanischen Schriftsteller Mark Twain übersetzt. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum dieses Büchlein heute noch nicht von linken Gesellschaftserziehern umgetextet wurde oder in irgendwelchen Erinnerungslücken verschwunden ist. Bis das passiert, kann man das kleine Buch tatsächlich zurzeit noch in seiner Originalform erwerben.
Der Struwwelpeter ist ein authentisches Stück deutsche Kultur, das aus liebevollen und rechtschaffenden Motiven heraus entstand. Es kann durchaus als ein kleines Zeugnis deutscher Hochkultur betrachtet werden, wenngleich es doch so bescheiden und so einfach daherkommt.