Regelmäßig habe ich das Gefühl, in der Schule solle einem eher die Lust an klassischer Literatur gründlich verdorben werden, als daß man Begeisterung in den Schülern weckt. Jedes Werk so artig zurechtgebogen im Geiste von Grundi Grundgesetz, daß man einen Generator an die letzte Ruhestätte des Verfassers anschließen sollte. Die Energieprobleme könnten womöglich gelöst werden, so schnell wie die großen Dichter ob der Umdeutung ihrer Werke im Grab rotieren.
Gotthold Ephraim Lessing beispielsweise ist so ein Dichter, den mir die Schule gründlich madig gemacht hat. Zu Unrecht, wie so vieles, was in der BRD abgeht. Mir wurde mit seiner Lektüre jedenfalls wieder gezeigt, wie schädlich Schule für einen intelligenten, wissensdurstigen Kinderkopf ist. Denn das erste Werk Lessings, das ich aus eigenem Entschluß gelesen habe, fällt sofort durch seine hohe Qualität ins Auge – „Minna von Barnhelm“.
Fast schon griechische Dramaturgie
Allein aus dramaturgischer Perspektive ist „Minna von Barnhelm“ bereits ein Meisterwerk. Beinahe im griechischen Stil reichen ihm 2 Räume eines Gasthauses zur Aufführung. Schlank und elegant findet sich eine einheitliche Handlung wieder, die binnen weniger Stunden an Ort und Stelle dargelegt wird – ein Tag wie aus dem echten Leben.
Die gesamte Vorgeschichte der Handlung wird bruchstückhaft nur allmählich zusammengesetzt. Dies jedoch so geschickt, daß keine Verständnisschwierigkeiten auftreten. Man kann von Anfang an dem Geschehen folgen, während dieses sich von scheinbaren Banalitäten sukzessive zum Kern des Werkes steigert.
Doch obschon der Schleier der Geheimnisse erst im letzten Akt vollends gelüftet wird, wird die Spannung nicht künstlich in die Länge gezogen. Schon im zweiten Akt finden Minna und Tellheim eine erste (unbefriedigende) Aussprache. – Man nähert sich konsequent und Schritt für Schritt dem Finale an.
Natürlich ist auch dieses Drama keine exakte Wiedergabe des realen Lebens, sondern eine idealisierte Näherung, doch hat man hier ob der Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit mehr als etwa bei Shakespeare das Gefühl, unmittelbar Teil zu haben am sich darbietenden Geschehen.
Müßte ich an der Form etwas kritisieren, so wäre es die Prosa, in der das Werk geschrieben. Doch obwohl ich meistenteils den Blankvers bevorzuge, hat mich die ungebundene Form hier durchaus nicht gestört. Der Text geht locker und fließend; die Sprachmelodik ist angenehm.
Der edelmütige Major von Tellheim
Mehr noch als die Form vermag der Inhalt zu gefallen. In „Minna von Barnhelm“ treffen Seelen zusammen, wie man sie nur bewundern kann.
Der Major von Tellheim, dem nach dem Krieg das letzte Hemd fehlt, ist kurz davor, aus dem Gasthaus zu fliegen, in welchem er bisher gewohnt. Da bekommt er Besuch von einer Witwe, welche ihm die Schulden ihres verstorbenen Mannes, eines Freundes Tellheims, zurückzahlen will. Doch statt das dringend benötigte Geld anzunehmen, behauptet Tellheim rundheraus, derselbe hätte niemals Schulden bei ihm gehabt. Ja, unmittelbar nachdem ihn die Witwe wieder verlassen, vernichtet er den Schuldschein, und veräußert zur Tilgung der eigenen Schulden schweren Herzens lieber seinen Verlobungsring, als das Geld der verarmten Witwe zu nehmen.
Doch damit nicht genug: Tellheim weigert sich auch, Geld von seinem alten Soldatenkameraden Werner anzunehmen. Obwohl Tellheim bereits im Krieg der Schuldner Werners wurde, sieht er die jetzige Situation anders:
„Ich bekenne es mit Vergnügen, daß ich dir zweimal mein Leben zu danken habe. Aber Freund, woran fehlte mir es, daß ich bei Gelegenheit nicht ebensoviel für dich würde getan haben? He!“ – „Nur an der Gelegenheit!“ (3. Akt, 7. Szene)
Diese Regung als Edelmut einzuordnen, greift zu kurz: Das ist der Stolz – die Seelengröße – eines Mannes, der sogar den eigenen Untergang einer Demütigung vorzieht. Noch deutlicher äußert sich Gordon Comstock, der bettelarme Dichter in George Orwells „Die Wonnen der Aspidistra“, als ihm sein steinreicher Freund Ravelston Geld leihen will: „Danke. Aber ich ziehe es vor, meine Freunde zu behalten.“
Geld oder Gerechtigkeit?
Denn eine Freundschaft kann es nur auf Augenhöhe geben. Ist der eine vom anderen abhängig; nurmehr ein Parasit im Leben des anderen, so ist das keine Freundschaft mehr. Früher oder später wird der Gönner Verachtung gegen den anderen empfinden, denn eine Freundschaft erfordert Ebenbürtigkeit. Und auch Tellheims Selbstachtung verweigert sich einer solchen Erniedrigung durch jemanden, der ihm Freund heißt, und möchte diese Freundschaft nicht durch Schnorrerei in Gefahr bringen. Deswegen will Tellheim auch seine Minna von Barnhelm, die auf der Suche nach ihrem Verlobten zufällig im selben Gasthaus abgestiegen ist, nicht als Frau akzeptieren: Er selbst wäre nicht gut genug für sie, er, der nicht nur mittellos, sondern auch noch ehrlos gilt.
Denn im Krieg mußte Tellheim in Thüringen die Kontribution eintreiben – welche betroffenes Land und Leute nicht aufbringen konnten. So hat Tellheim diese so niedrig als nur möglich angesetzt und schließlich sogar einen Gutteil davon aus dem eigenen Vermögen bezahlt. Von den Bürgern empfing er eine Quittung, welche jene nach dem Krieg zurückzahlen wollten. Hat er sich mit dieser edelmütigen Tat zwar das Herz Minnas erobert, wurde sie ihm von den Machthabern ganz anders ausgelegt: Die Quittung wäre das Schmiergeld dafür, daß er die Abgaben zum niedrigstmöglichen Betrag bemessen hätte. Tellheim wäre bestechlich und wurde entsprechend aus der Armee ausgeschlossen.
Auf den Verdacht, seine Liebe wäre verstummt, ja, er hätte womöglich gar eine andere, antwortet Tellheim in deutlichen Worten: „Der hat Sie nie geliebt, mein Fräulein, der eine andere nach Ihnen lieben kann.“ (2. Aufzug. 9. Szene) Doch solange er nicht gleichauf ist mit seiner Verlobten, und sei es auch nur in den Augen der Gesellschaft, so kommt es für diesen Mann gar nicht infrage, ein edles Mädchen mit seiner Existenz zu belasten.
Woher der Wind weht, erkennt auch seine Verlobte sehr gut: „Denn auch seiner Geliebten sein Glück nicht wollen zu danken haben, ist Stolz, unverzeihlicher Stolz!“ (3. Akt, 12. Szene)
Die weibliche Not verleiht ihm Flügel
Minna, deren Liebe sich weder von Tellheims Stolz, noch durch einen „an seiner Ehre gekränkten Offizier, einen Krüppel, einen Bettler“ (4. Akt, 6. Szene) abschrecken läßt, greift schließlich zu einer List: Sie gibt sich selbst als mittellos und enterbt aus, um genauso tief zu fallen wie der Mann, den sie erringen will.
Als er dessen teilhaftig wird, durchfährt Tellheim ein Energiestoß: „Wie ist mir? – Meine ganze Seele hat neue Triebfedern bekommen. Mein eigenes Unglück schlug mich nieder; machte mich ärgerlich, kurzsichtig, schüchtern, lässig; ihr Unglück hebt mich empor; ich sehe wieder frei um mich, und fühle mich willig und stark, alles für sie zu unternehmen.“ (5. Akt, 2. Szene)
Jetzt erst hat er wieder einen Sinn zu leben. Während das eigene Elend ihn kalt ließ, berührt ihn das seiner Verlobten umso mehr und weckt in ihm das Bedürfnis, derselben zu helfen; sie zu stützen, wie es die Aufgabe des starken Geschlechts ist: „Soll sich der Mann alles erlauben, was dem Weibe geziemt? Welches bestimmte die Natur zur Stütze des anderen?“ (5. Akt, 9. Szene)
Nun ist er plötzlich auch bereit, Geld von seinem Freund Werner anzunehmen, ja, er bettelt diesen geradezu darum an. Weil er es jetzt nicht länger für sich selbst braucht. Zur rechten Zeit kommt dann auch noch ein Schreiben vom König, in welchem Tellheim vollständig rehabilitiert und in seiner Ehre wiederhergestellt wird. Nachdem Tellheim auch seinen Verlobungsring zurückerhält, steht dem glücklichen Ende auf Augenhöhe nichts mehr im Wege.
Der Titel birgt die wahre Heldin
Wiewohl der Major von Tellheim seiner Verlobten an Charakter in nichts nachsteht, ist das Drama gewiß nicht zu Unrecht nach der weiblichen Heldin benannt. Denn es ist Minna von Barnhelm, welche die Fäden in der Hand hält. Von ihr geht die Initiative aus, den defätistischen Tellheim, der eigentlich schon entfliehen will, zu seinem Glück zu verhelfen. Sie durchschaut die Persönlichkeit ihres Verlobten und weiß geschickt mit seinen Schwächen umzugehen; ihn letztlich auch davor zu schützen – indem sie sich selbst als notleidend hinstellt. – Ein Kniff, welcher Tellheim, wären die Rollen vertauscht, vermutlich im Traum nicht eingefallen wäre. Mit zwei Tellheims; mit zwei Männern, von denen keiner nachstehen will, wäre das Drama ganz gewiß anders ausgegangen.
Ähnliches beobachtet man an der Antigone des Sophokles, Luise Miller aus Schillers „Kabale und Liebe“, Senta aus Wagners Holländer, sowie an der Penelope des Odysseus. Interessant an diesen Frauen ist, daß keine von ihnen nach Ruhm und Anerkennung strebte, und sie doch beides erreichten durch ihren teilnehmenden Einsatz für einen geliebten Menschen.
Sei es die heißblütige Antigone, die sich sogar mit dem König anlegt, um ihren Bruder angemessen zu bestatten; oder die versonnene Senta, die sich selbstlos in die Fluten stürzt, um den leidgeprüften Holländer zu erlösen.
Während Frauen meiner bescheidenen Meinung auf dem Schlachtfeld einfach nichts zu suchen haben, und selbst Kraftsportlerinnen rundheraus schwach sind gegen einen durchschnittlichen Mann, liegen weibliche Qualitäten anderswo. Sie zeichnen sich aus durch Einfühlungsvermögen und Anteilnahme und finden in diesem Edelmut eine ehrliche Bewunderung, welchem Schiller in seinem Gedicht von der „Würde der Frauen“ vortreffliche Huldigung verschaffte, wie folgender Auszug zeigen mag:
Ewig aus der Wahrheit Schranken
Schweift des Mannes wilde Kraft;
Unstet treiben die Gedanken
Auf dem Meer der Leidenschaft;
Gierig greift er in die Ferne,
Nimmer wird sein Herz gestillt;
Rastlos durch entlegne Sterne
Jagt er seines Traumes Bild.Aber mit zauberisch fesselndem Blicke
Winken die Frauen den Flüchtling zurücke,
Warnend zurück in der Gegenwart Spur.
In der Mutter bescheidener Hütte
Sind sie geblieben mit schamhafter Sitte,
Treue Töchter der frommen Natur.