Karl May ist einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller. Nicht nur hat er eines der vermutlich umfangreichsten Werke aller Zeiten hinterlassen; dieses Werk gehört auch zu den meistgelesenen der Welt und hat ganze Generationen geprägt. Wer sein Bild vom Wilden Westen nicht aus den Lucky Luke-Comics hat, der dürfte es aus Karl Mays Romanen haben.
Daß Eisenbahn und Westerschließung bei May nicht existieren und der Wilde Westen nur aus Jägern und Fallenstellern meist deutscher Abkunft zu bestehen scheint, die mitten im Indianergebiet ums Überleben kämpfen, ist natürlich eine starke Romantisierung, verleiht den Werken aber auch ihren Scharm. Es berührt die Waldeinsamkeit der deutschen Romantik, deren Töne auch die Gemälde von Caspar David Friedrich anschlagen – etwa die „Felspartie im Harz“. Sie zeigt eine Landschaft, wie man sie sich eins zu eins in Karl Mays Amerika vorstellen könnte.
Karl May kaufte man beim Landstreicher!
Die Kolportage war in früheren Zeiten der Vertrieb von Literatur durch Hausierer von Haus zu Haus. Zumeist wurden die Werke in einzelnen Bögen von wenigen dutzend Seiten vertrieben, um die Druckkosten und damit das Risiko des Verlags zu minimieren. Zusätzlich erreichte man auf diese Weise auch die Landbevölkerung, die kaum anderen Zugang zu Literatur hatte, als durch den Kolporteur, der eines schönen Tages an der Tür klopfte.
Auch zum Frühwerk Karl Mays gehören fünf Romane, die vom Verlag H. G. Münchmeier als Kolportageroman herausgegeben wurden. Besonders gelungen finde ich den Roman „Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die Erde“. Bedingt durch diese Vermarktung erschien auch Waldröschen als Fortsetzungsroman, von dem insgesamt 109 einzelne Gehefte an die Kunden gebracht wurden.
Er bereitete dem Autor einige bis über seinen Tod hinausgehende juristische Scherereien. Neben Fragen des Verwertungsrechtes ging es auch um anstößige Szenen, die heute niemand mehr als solche empfinden würde. May, der sich lieber an seinem Spätwerk messen ließ, bestritt, diese verfaßt zu haben: Münchmeier hätte sie ohne sein Einverständnis hinzugedichtet.
Vielleicht wurden die Romane auch deshalb vom Karl-May-Verlag umfangreich überarbeitet: Die betreffenden Szenen wurden gestrichen, das Werk wurde gestrafft und auch einige Namen geändert. Dies ist die mir vorliegende Ausgabe mit dem Urheberrecht des Karl-May-Verlags von 1951. Ich gehe jedoch davon aus, daß die für mein Urteil wesentlichen Punkte auch für die bearbeitete Version gelten. – Man möge mir verzeihen, daß ich nicht eigens noch die fünf Bände in der Originalversion gelesen habe, um mich dessen zu vergewissern.
Der Tiefpunkt ist in Wirklichkeit ein Höhepunkt
Als reine Auftragsarbeit gilt Waldröschen als eines von Mays schlechtesten Werke. Ich persönlich kann das nicht bestätigen. Im Gegenteil: Durch einige Besonderheiten halte ich gerade dieses Werk trotz all seiner Mängel für besonders lesenswert.
Der Roman begleitet in der gesammelten Fassung über fünf Bände hinweg Doktor Karl Sternau, der Old Shatterhand weder an Gestalt noch an Fähigkeit irgend nachsteht. Dieser rettet durch seine überragenden medizinischen Kenntnisse dem spanischen Grafen Emanuel de Rodriganda das Augenlicht und nicht zuletzt gar das Leben. Durch seine Ritterlichkeit erobert er auch die Hand der Prinzessin Rosa de Rodriganda. Nach einem erfolgreichen Giftanschlag ihres Vermögensverwalters Cortejo bietet er den beiden Spaniern in Deutschland, Rheinswalden, Zuflucht.
Ziel des Verwalters war es, seinem eigenen Sohn, der im Säuglingsalter mit dem leiblichen Sohn des Grafen vertauscht worden war, das riesige Vermögen der Rodrigandas zuzuspielen. Die Verhinderung dieses geschickten Plans, die Lüftung des Geheimnisses und die Wiederherstellung der Gerechtigkeit nimmt den Rest des Werkes in Anspruch.
May liest man nicht wegen seiner Originalität
Tiefsinn und besondere Finesse darf man freilich nicht erwarten: Als der Autor es nötig hat, die ganze Abenteurergesellschaft Sternaus in die Hände eines Piraten zu bringen, läßt er diese einfach für eine Überfahrt an Bord dessen Schiffes gehen. In der Kajüte versammelt ruft der Pirat nun einen nach dem anderen nach draußen in die finstere Nacht, weil es angeblich etwas zu besprechen gäbe. Und natürlich folgt ihm jeder ganz allein, unbewaffnet und ohne den geringsten Verdacht zu schöpfen, wohin denn all die anderen verschwunden sein könnten, die schon vor ihm nach draußen gingen.
Ferner recycelt May manche Szenen einfach eins zu eins ein paar hundert Seiten später, an anderem Ort und mit anderen Beteiligten. Das ist in der Regel auch kein Qualitätsmerkmal. Jedoch bin ich gewillt, solche Kunstgriffe als künstlerische Freiheit durchgehen zu lassen. Mich haben sie eher erheitert als geärgert, weil offensichtlich ist, daß May hier zu faul war, sich etwas besseres auszudenken. Und wenn man ehrlich ist: Man liest May nicht wegen dessen Originalität.
Ein Abenteuer auch in den deutschen Landen
Die Geschichte ist sogar für Karl May mit einem Umfang von fünf Bänden zu jeweils etwa 400 Seiten umfangreich. Entsprechend vielschichtig ist auch die Handlung. Es gibt mehrere Handlungsstränge, die geschickt miteinander verwoben werden. Den Überblick zu behalten ist trotzdem leicht. Auch ein guter Schuß echter Geschichte fließt mit ein, namentlich der Krieg Benito Juarez‘ gegen Maximilian I von Mexiko, der in der Hinrichtung des Habsburgers gipfelte.
Der Zweittitel des Romans ist „Die Rächerjagd rund um die Erde“ und dieser Titel ist kaum übertrieben: Es geht wahrlich um die ganze Welt, vom alten Europa nach Mexiko, Spanien, Afrika, der Orient und natürlich die deutschen Lande im neunzehnten Jahrhundert, wenige Jahrzehnte vor der Ausrufung des Kaiserreichs. Teilweise entfernt sich die Handlung so weit vom Stein des Anstoßes, daß die Erbschaftsfrage ganz in den Hintergrund tritt. Verschiedenste Kulturen werden gezeigt, von steifen spanischen Schlössern über Negerkrals in Afrika; zugetan ist der Autor vor allem Mexikos ländlicher Seite und dessen indianischen Ureinwohnern.
Von besonderem Interesse ist diese Geschichte, weil das wilde Amerika seinen Widerpart findet im zivilisierten Deutschland zur Hochzeit seiner Macht und Kultur. Während Doktor Sternau in Mexiko seine Widersacher verfolgt, unter freiem Himmel nächtigt, in Wildleder gekleidet ist und teils nicht einmal die Mittel hat, sich den Bart zu scheren, besucht sein späterer Schwiegersohn Kurt Unger eine Offiziersakademie in Berlin.
Durch den Personalwechsel zwischen diesen Welten sorgt besonders Trapper Geierschnabel im gleichnamigen vierten Teil auf seiner Reise in die deutschen Lande für einige so herzhafte Lacher, daß man sich glatt frägt, ob May nun die Gattung gewechselt hat und sich an einer Komödie versucht. Natürlich darf auch nicht fehlen, daß Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelm persönlich Mays Figuren ihre Hochachtung aussprechen für deren staatsrettende Dienste.
Blut muß fließen
Waldröschen befriedigt darüber hinaus auch die Rachegelüste des Lesers: Die Schurken werden auf Blut gestraft.
Tatsächlich hat mich an den Romanen um Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi schon als Kind das geradezu zwanghafte Bestreben des Ich-Erzählers gestört, alles auf unblutige Art zu lösen. Selbst im wildesten Westen, wo kein Staatsbüttel mehr zuschaut, will Shatterhand den schlimmsten Erzbösewicht doch lieber lebendig festnehmen, um ihn den ganzen Weg nach Washington vor ein ordentliches Gericht zu schleifen, als das zu tun, was jeder Mensch instinktiv will: Ihm eine Kugel in den Kopf jagen. Das fand ich schon als Kind unrealistisch und diese Meinung hat sich bis heute nicht geändert.
In Waldröschen endlich wird mit harten Szenen nicht gegeizt, und so manchen Bösewicht erleidet ein wahrlich schlimmes Schicksal. Trotzdem wird May in seinen Erzählungen niemals grausam oder gar pervers: Die Gewalt, die dargestellt wird, ist nur jene, die auch in der Realität zu erwarten wäre, und geht niemals über das realistische Maß hinaus.
Übersteigerter Moralismus
Tatsächlich ist May besonders im Spätwerk ein strenger Moralist und wendet alle Barbarei konsequent ab, die seinen Überzeugungen zuwiderläuft. Bei May wird es niemals eine Vergewaltigung geben, auch wenn es gerade in Waldröschen genug Gelegenheit dazu gegeben hätte. Szenen, in denen man eigentlich meinen müßte, die Notzucht wäre unvermeidbar – doch May bleibt hart: In seinen Romanen wird keine Frau gegen ihren Willen die Unschuld verlieren, und auch Folterszenen kann ich mir nicht vorstellen.
Oft zieht May sich durch Tricks aus der selbstgeschaffenen Zwangslage, die Schurken nicht eigenhändig töten zu wollen. So läßt er diese meistens, von seinen Helden gefangen genommen, Selbstmord begehen, oder schon vorher einem tragischen Unfall erliegen. Dies widerfährt etwa den beiden Hauptantagonisten sowohl aus der Winnetou-Reihe wie auch dem Orientzyklus.
Diese übersteigerte christliche Moral finde ich persönlich zu viel des Guten, da sie auch zu Nachsicht anleiten mag, wo es keine geben darf. Wer die Geschichten kennt, weiß, daß dort oft unverbesserliche Verbrecher herumlaufen, die zu Reue gänzlich unfähig sind. Die Dinge getan haben, wo man vielleicht auch nicht mehr diskutieren sollte. (Ich erinnere an Santers Doppelmord an Intschu-tschuna, dem Vater Winnetous, und Nscho-tschi, die Old Shatterhand heiraten wollte.)
Diesen in May‘scher Manier die Hand der Versöhnung hinzuhalten, nachdem man sie erst mühsam überwältigt, ginge in der Realität wohl kaum so glimpflich aus wie in Mays Romanen.
Der deutsche Heros übertrifft den griechischen um das Tausendfache
Obwohl May nur Unterhaltungsliteratur in Form von Abenteuerromanen verfaßte, würde ich trotzdem so weit gehen, die Lektüre seiner Werke auch als erzieherisches Mittel zu empfehlen. Ja, wer Literatur für seine Kinder sucht, denen würde ich sicher empfehlen, dem Sprößling einen Band von Karl May in die Hand zu drücken. Mir hat es nicht geschadet und ich kann mir keine bessere Literatur für Heranwachsende vorstellen.
Denn im Gegensatz zur oft anspruchsvollen Hochliteratur wird jeder einen Zugang zu May finden, der des Lesens überhaupt fähig ist. Darüber hinaus sei erwähnt: Mays Romane werden in niemandem ein negatives Bild über die Deutschen erwecken.
Im Gegensatz zu den Systemkünstlern der BRD hat Karl May ein gesundes Verhältnis zum eigenen Volk und schildert dieses daher stets in einer Vorbildfunktion. Der Nationalmasochismus, in dem man sich heute so gerne suhlt, ist May völlig fremd: Er bekennt sich zu seinen deutschen Wurzeln und kommt gar nicht auf die Idee, schlecht darüber zu denken.
Vielmehr steigert sich seine Liebe zum Deutschtum manchmal gar auf ein Maß, daß es für den kritischen Leser schon ein Element der Komik erhält, welche Halbgötter die deutschen Lande offenbar hervorbringen.
Ich zitiere die Wikipedia zum Eintrag über „Old Shatterhand“ in der Version vom 11.6.2023:
„Er beherrscht mindestens folgende Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Apache, Komantsche, Kiowa, Utah, Arabisch, Türkisch, Persisch und Chinesisch.
Ferner besitzt er umfassende Kenntnisse in folgenden Wissensgebieten: Mathematik, Physik, Astronomie, Meteorologie, Chemie, Botanik, Zoologie, Anatomie, Medizin, Mechanik, Literatur, Poesie/Lyrik, Musik, Geschichte, Völkerkunde, Geografie sowie Theologie aller Weltreligionen (er kennt die Bibel und den Koran auswendig). Darüber hinaus besitzt er teilweise überragende Fähigkeiten im Laufen, Sprinten, Ringen, Schwimmen, Fechten, Reiten, Schießen und Schleichen.“
Arnold Schwarzenegger, dieser Tausendsassa, wäre nach Mays Schilderungen noch der geringste Sproß dieser unsterblichen Nation.
Doch wer als Deutscher sein eigenes Volk schätzt, wird sich an dieser Überhöhung wohl kaum stören, sie vielmehr mit einem wissenden Augenzwinkern quittieren.