„Blut spritzt aus der Schulter, und ich muß stark gegen ein Schwarzwerden vor den Augen ankämpfen. Fünfzig oder sechzig Meter lauf ich vor den Verfolgern, die Kugeln pfeifen ununterbrochen. Mein einziger Gedanke: >> Verloren ist nur, wer sich selbst aufgibt.<<“
Man möchte meinen, dieser letzte Satz wäre das Motto aller großen Männer. Denn nicht selten mußten sie viel riskieren für das Vorrecht, die Nachwelt mit Begeisterung zu erfüllen. Hätte Caesar den Bürgerkrieg nicht gewonnen: Er hätte nach Überschreiten des Rubikon nichts mehr zu lachen gehabt. Leonidas, der Spartanerkönig, bezahlte seinen ewigen Ruhm mit dem Leben. Nicht viel anders erging es Vercingetorix und Winkelried, die im Freiheitskampf gegen feindliche Invasoren ihr Leben verloren.
Solche Leben inspirieren die Menschen noch heute; hunderte, tausende von Jahren nach ihrem Tod. Ihre Biographie strahlt dieselbe erhabene Schönheit aus, die auch guten Gemälden innewohnt. Ihr Leben; ihre Person gleicht einem vollendeten Kunstwerk, und das ist, was Menschen anzieht. Doch wiewohl ein vorzeitiger Tod diesen Lebensbeschreibungen niemals fern ist, so ist ein tragisches Ende auch kein Muß, wie wir im folgenden feststellen werden.
Auch in der Moderne gibt es außergewöhnliche Biographien
Das einleitende Zitat dieses Artikels stammt vom höchstdekorierten Soldat der deutschen Wehrmacht. Hans-Ulrich Rudel hat, wie Ernst Jünger, seine Erlebnisse im Weltkrieg festgehalten, wiewohl es der zweite war, in welchem er für sein Vaterland focht.
Rudel, ein Mann der Tat, beschreibt seine Erlebnisse stets mit sachlicher Distanziertheit. Selbst die atemberaubendsten Szenen schildert er so nüchtern wie ein äußerer Beobachter; wie ein Arzt einen Patienten diagnostiziert. Rudel will niemanden beeindrucken; er gibt nur Fakten wieder. Auf diese Weise bleibt der Eindruck des Lesers oft hinter der wahren Leistung zurück, und erst, wenn man sich selbst in diese Situation hineinversetzt, erkennt man, was Rudel wirklich durchgemacht hat.
Doch nicht nur einer Bewertung seiner persönlichen Erlebnisse; auch jeder politischen Debatte enthebt er sich. Man erfährt nur wenig über den zweiten Weltkrieg. Es ist Rudels Tagebuch und nicht die Abhandlung eines Historikers. Daß auf das größere Ganze gar nicht eingegangen wird, tut dem Werk jedoch keinen Abbruch. Im Gegenteil: Lehrbücher über den zweiten Weltkrieg gibt es mehr als genug, doch Rudels Kriegstagebuch schildert die individuellen Erfahrungen eines Mannes, der auch in den Tagen des antiken Roms eines Biographen wert gewesen wäre. Das Buch präsentiert eine Persönlichkeit, die sich äußeren Zwängen ausgesetzt sieht und diese meistert. Die Details mögen variieren; das Motiv ist zeitlos.
Geboren 1916 war Rudel zu Kriegsbeginn 1939 gerade 23 Jahre alt, stand also vor dem Höhepunkt männlicher Leistungsfähigkeit, und hat diesen Lebensabschnitt bis ans Limit ausgereizt. Was dieser bewährte Stukaflieger zu Papier bringt, wäre manchem Abenteuerautor der Moderne zu unglaublich, um es in einem fiktiven Werk unterzubringen. Es zeigt sich: Die besten Geschichten schreibt das Leben, in dessen harte Realität man eine große Seele wirft. Ein unglaubliches Können, ein eiserner Wille, und sicher auch ein Quäntchen Glück in der einen oder anderen Situation sorgen für einen Erlebnisbericht, dessen sich nur wenige rühmen dürfen.
„Vom Regenschirm zum Stuka“
So heißt das erste Kapitel von Rudels Autobiographie. Bereits mit acht Jahren kennt er seinen Berufswunsch, nachdem seine Eltern ihm von „einem Mann, der aus großer Höhe mit einem Fallschirm abgesprungen und unten sicher angekommen ist“ erzählen. Er selbst versucht das gleich nachzumachen, nämlich mit einem Regenschirm und dem Fensterbrett im ersten Stock. Obwohl er sich beim Sprung ein Bein bricht, steht sein Entschluß fest: „Ich will zur Fliegerei.“
Tatsächlich beginnt Rudels Karriere nicht gerade glänzend: Er will zur Jagdfliegerei, meldet sich dann aber freiwillig für die Stukas, weil er glaubt, bei den Jagdfliegern wären zu wenig Plätze – ein Irrtum, wie er sogleich erfährt. Von seinem Jahrgang werden fast alle Jagdflieger. Doch da ist es für Rudel bereits zu spät: Er ist Stukaflieger.
Auch bei der Ausbildung macht er keine gute Figur:
„Daß ich schnell lerne, kann ich nicht behaupten. … Der Groschen fällt langsam – meinem Staffelkapitän anscheinend zu langsam, so daß er an das Fallen überhaupt nicht mehr glaubt. Daß ich meine Freizeit mehr in die Berge und auf die Sportplätze verlege als in das Offizierskasino und hier bei gelegentlichen Besuchen auch nur Milch trinke, macht meinen Stand nicht leichter.“
Erst als der Krieg bereits in Griechenland angekommen ist, hat Rudel plötzlich von einem Tag auf den anderen den Bogen raus – der Groschen ist gefallen. „Ich beherrsche meine Maschine ganz und gar.“
Auch vom Feinde respektiert
Es würde das Maß dieses Artikels sprengen, auch nur die packendsten Heldentaten anzureißen, die Rudel in seinem Kriegstagebuch festgehalten hat. So möchte ich es bei einer abschließenden Bilanz seiner Erfolge belassen: Er unternahm 2530 Feindflüge, schoß über 500 Panzer ab und versenkte dabei drei feindliche Schiffe. Eigens für ihn wurde der Orden des Ritterkreuzes des Eisernen Kreuzes mit goldenem Eichenlaub, Schwertern und Brillanten eingeführt. Kein anderer sollte sich jemals diesen Orden in seiner höchsten Stufe verdienen.
Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner sagte nicht grundlos: „Rudel ersetzt alleine eine ganze Division.“
Pierre Clostermann, Frankreichs erfolgreichster Jagdflieger, schreibt nach dem Krieg sogar das Vorwort zu Rudels Autobiographie und sagt dabei: „Rudel hat zu keiner Zeit seine soldatische Ehre verletzt. Vor der Geschichte wird es nicht verborgen bleiben, daß tausende von deutschen Müttern Rudels Tapferkeit das Leben ihrer Söhne verdanken. … Rudel ist aufs übelste verleumdet worden, er, der es stets – und ich weiß das wohl besser als die meisten anderen – abgelehnt hat, seinen Namen politischen Zielen oder Machenschaften zur Verfügung zu stellen.“
Douglas Bader, Brite, schreibt nach dem Krieg über Rudel: „Obwohl ich ihn nur während einiger Tage getroffen habe, ist er doch auf jeden Fall ein feiner Kumpel, und ich wünsche ihm Glück.“
Rudels Persönlichkeit ist beeindruckender als die militärischen Leistungen
Doch nicht eigentlich seine militärischen Leistungen sind es, die Rudel als Persönlichkeit auszeichnen, sondern vielmehr seine Widerstandskraft, seine Entschlossenheit und sein Pflichtbewußtsein.
Er stieg auch dann noch ins Flugzeug, als ihm die Flak das Bein weggeschossen hatte. Gegen Ende des Kriegs erhielt er vom Führer persönlich Flugverbot; er wäre zu kostbar; sein Verlust zu demoralisierend, als daß man ihm weitere Feindflüge erlauben könne. Doch statt sich mit dieser Ausrede bequem zurückzulehnen, mißachtete er den direkten Befehl, wohl wissend, daß er mit seiner Erfahrung mehr ausrichten würde als die Jungspunde, die man ihm nur als Kanonenfutter anvertraut hatte. Die wichtigsten und gefährlichsten Aufgaben übernahm er bis zum letzten Kriegstag alle selbst.
Dabei nahm er keine Rücksicht auf die eigene Gesundheit und die offene Wunde, wo eigentlich sein Bein hätte sein sollen: „Meine Flugzeugmechaniker haben mir aus Leichtmetall einen Apparat gebaut wie ein Teufelsfuß; mit diesem fliege ich. Es ist unter dem Kniegelenk befestigt, und bei jedem Druck dagegen, also wenn ich aufs Seitensteuer rechts treten muß, zieht es die Haut, die gerade zusammenwachsen möchte, unten am Stumpf auseinander. Es reißt immer wieder erneut auf unter starkem Bluten. Besonders im Luftkampf, wenn ich äußerst rechts kurven muß, hindert mich die Verwundung sehr, und manchmal muß mein Wart die bebluteten Maschinenteile wieder reinigen.“
Sein Überlebenskampf: „Flucht am Dnjestr“
Wie zäh Rudel wirklich war, zeigt vor allem ein Kapitel, das er lapidar „Flucht am Dnjestr“ nennt. „Ein Verzweiflungskampf ums nackte Überleben“ wäre auch nicht übertrieben gewesen.
Beim Versuch, zwei abgestürzte Kameraden zu retten, bleibt sein eigenes Flugzeug im Schlamm stecken.
„Ich gebe Gas, linke Bremse – ich will zurückrollen, um genau so rauszustarten, wie ich gelandet bin. Mein linkes Rad versackt tief im Boden; je mehr Gas ich gebe, um so mehr frißt sich das Rad in den Boden. Die Maschine bewegt sich nicht mehr von der Stelle.“
Weit entfernt von den eigenen Linien sind die vier Deutschen gestrandet; mitten im von Russen kontrollierten Territorium.
„Ich sehe mich um, da kommen vierhundert Meter entfernt, scharenweise Iwans angelaufen.“ (sic!)
Er, sein Bordschütze Henschel und die beiden anderen werden sechs Kilometer durch die Winterlandschaft verfolgt, gekleidet mit Pelzstiefeln und Pelzjacke, was das Laufen nicht leichter macht. „Schwitzen ist gar kein Ausdruck!“
„Plötzlich stehen wir vor fast senkrecht abfallenden Steilwänden, unten fließt der Strom [der Dnjestr, Anm. Spartabube]. Der Höhenunterschied beträgt zwischen dreißig und vierzig Metern. Wir laufen hin und her, um eine Abstiegsmöglichkeit zu finden … unmöglich! … Wir ließen uns von den Spitzen der Fichten durch die einzelnen Etagen der Äste durchrutschen, und weil der Fall so gebremst wurde, kamen wir heil nach unten.“
Beim Durchschwimmen dieses sechshundert Meter breiten, Eisbrocken führenden Flusses verlassen Rudels Freund Henschel die Kräfte; er ertrinkt im Eiswasser. Zwar springt Rudel, bereits am Ufer, zurück ins Wasser, um jenen zu retten, bemerkt aber in seiner Autobiographie: „Wäre es geglückt, Henschel zu fassen, so würde ich mit ihm im Dnjestr geblieben sein.“
Kaum am anderen Ufer, laufen sie erneut Russen in die Arme. Während die beiden anderen sich völlig entkräftet in ihr Schicksal fügen, ergreift Rudel die Flucht, wird angeschossen und entkommt nur durch die hereinbrechende Dunkelheit. Von da an rennt er, barfuß, und wegen der Schwimmeinlage nur spärlich bekleidet, schätzungsweise fünfundfünfzig Kilometer durch die gefrorene Winterlandschaft des europäischen Ostens. Erst am nächsten Tag erreicht er einen deutschen Stützpunkt, wo er sich dank seines Ritterkreuzes ausweisen kann, und in medizinische Behandlung kommt.
Man wächst an seinen Herausforderungen
In unseren Tagen ist ein solches Erlebnis, wie Rudels es am Dnjestr beschreibt, praktisch unmöglich. Mir zumindest war solch eine Gelegenheit in keinem Moment meines Lebens vergönnt. Ich sage nicht, daß ich so etwas selbst erleben möchte. Aber ich bekenne ganz ehrlich: Ich beneide Hans-Ulrich Rudel um die Gelegenheit, beweisen zu können, was wirklich in ihm steckt.
Was gibt es denn heute noch an Möglichkeiten, sich selbst herauszufordern? Sport, ja, das ist eine gute Methode. Aber man wird kaum je bis an jene Grenze gehen, die man unter Lebensgefahr ausreizen würde – müßte.
Auch Kampfsport mag Körper und Geist abhärten, aber es ist eben doch nur Sport. Man steigt freiwillig in den Ring, mit einem Gegner, der einen sicher nicht umbringen wird und den zu besiegen man sich realistische Chancen ausrechnet. Das ist sicher nicht schlecht und der Persönlichkeitsentwicklung gewiß förderlich, das will ich gar nicht in Abrede stellen. Aber es ist nicht im Ansatz mit dem vergleichbar, was Rudel im Krieg vollbrachte, einfach, weil er mußte.
Jede Art von Herausforderung ist dieser Tage freiwillig und damit kontrolliert. Niemand begibt sich in eine Situation, in der etwas geschehen könnte, was er nicht von Beginn an auch einkalkuliert hat. Selbst Situationen, die man durchhalten muß, ob man will oder nicht, – sich etwa von einem Freund mitten in die Pampa fahren lassen, um von dort aus nach Hause zu laufen, oder eben in dieser Pampa übernachten zu müssen – sind kontrolliert. Man weiß vorab, worauf man sich einläßt. Das Risiko für Leib und Leben ist sehr gering.
Der Weg zu wahrer Größe
Doch erst an dem, was man eben nicht freiwillig macht, kann man sich wirklich beweisen. Welcher krasse Mutterficker hat sich für den Krieg in der Ukraine gemeldet? Diese sucht bekanntlich Freiwillige. Da kann man zeigen, was man drauf hat. Aber weil es freiwillig und der Tod nicht ganz unwahrscheinlich ist, wird die deutliche Mehrheit auf dieses Abenteuer dankend verzichten. Das verwundert auch nicht.
Niemand, der in behaglicher Sicherheit lebt, schlägt von einem Tag auf den anderen einen Lebensweg ein, der mit seinem Tod enden könnte. Solche Prozesse sind ein stetiges Herantasten – oder eben ein Stoß in den Rücken, zu dem man sich nicht freiwillig entschieden hat. Doch hat man erst damit begonnen, erfolgreich für mehr als nur den eigenen Vorteil zu kämpfen, fällt der Schritt nicht schwer, diese hehren Maßstäbe auch dann noch an sich selbst zu legen, wenn man nicht mehr von außen gezwungen wird – man (be)zwingt sich dann nämlich selbst.
Den Erwartungen seiner Kameraden gerecht zu werden; jene nicht zu enttäuschen, die sich auf ihn verließen, dürfte für Rudel der Grund gewesen sein, trotz Flugverbot und blutigem Beinstumpf noch als erster ins Flugzeug zu steigen. Doch um dorthin zu kommen, war der Druck notwendig, der aus Kohle Diamanten formt.
Ich muß konstatieren: Nicht alles, was angenehm ist, ist auch gut. Manchmal braucht es einen Stoß in den Rücken. Und um eine Persönlichkeit wahrhaft zu veredeln, mag es gar eines Flugzeugabsturzes mitten im Feindgebiet bedürfen.
Fazit
Hans-Ulrich Rudel hat seine Prüfung bestanden und darf daher mit Recht als eine herausragende Persönlichkeit gesehen werden. Unsere Generation indes kann sich nicht einmal beweisen. Wir haben keine Helden, weil es nichts heldenhaftes zu vollbringen gibt. Niemand wird bis an seine Grenzen gefordert. Alles ist kuschelig und weich.
Vielleicht sollte auch unsere Gesellschaft wieder ein kleines bißchen mehr Gefahr wagen. Gerade so viel, daß man die Gefahr um den eigenen Nacken streichen fühlt. Gerade so viel, daß man sich nicht einfach bequem zurückziehen und in Sicherheit bringen kann. Gerade so viel, daß man sagt: „Verloren ist nur, wer sich selbst aufgibt.“