Nichts läßt mich so lebendig fühlen, wie meinen Körper den Allgewalten der Natur auszusetzen. Beim Wandern von einem Wolkenbruch überrascht zu werden, zerreißt den Nebel der Langeweile, der üblicherweise über meinem Empfinden liegt, und sorgt für eine geistige Klarheit, von der ich sonst nur träumen kann. Wenn durch finstere Wolken die Blitze flackern; wenn der Donner krachend über den Himmel rollt, und der peitschende Regen den Wandersmann bis auf die Knochen durchnäßt, dann fühlt sich das Leben plötzlich real an und nicht länger nur wie eine Simulation, deren Ausgang einem eigentlich egal sein kann.
Im Auge des Sturms zu stehen und im zerbrechlichen Körper eines Menschen demselben zu trotzen, ist ein unbeschreiblich berauschendes Gefühl. Das Heulen dieser Urgewalten bläst Sauerstoff in die Glut des Seelenfeuers und facht den Lebensfunken neu an.
Es ist sicher nicht so, daß ich schlafwandlerisch durch diese Welt taumle. Wahrscheinlich nehme ich meine Umgebung sogar deutlich schärfer wahr als der Durchschnittsmensch, dem ja doch die Hälfte dessen, was seine Sinne registrieren, gar nicht zu Bewußtsein kommt. Doch die unbedingte Geistesgegenwart, die mir die Natur abringt; der konzentrierte Fokus aller Sinne auf die eigene Existenz und deren Aufrechterhaltung, ist etwas, das die moderne Industriegesellschaft nicht bieten kann. Sie ist langweilig.
Bequemlichkeit macht nicht glücklich
In unserer modernen Gesellschaft ist alles weich und warm. Niemals muß man Hunger leiden, und auch wenn in der BRD die Heizkosten durch eine meiner Meinung zutiefst bürgerfeindliche Politik ins Unermeßliche getrieben werden, ist auch noch kein Normalbürger erfroren. Wirkliches existenzielle Not hat hier keiner von ihnen erfahren müssen. Jeder lebt in Sicherheit.
Doch diese Annehmlichkeiten töten unsere Seele und würdigen den Menschen hinab zu einer haustierartigen Existenz, in die er sich so bereitwillig fügt wie das Schaf auf der Weide. Sein Lebensfunke verkümmert.
Das kuschelige Bett mag wohl bequem sein, doch es schläfert auch ein. Der Geist kann gar nicht an das (Über-)Leben denken, weil seine Sinne nichts registrieren, das dieses Leben in Gefahr setzen würde. Und weil uns diese Reize beinahe vollständig verlustig gingen, fährt der Körper diese Funktionen zurück, wenn er sie nicht ganz ausschaltet. Er distanziert sich immer weiter von der eigenen Existenz. Der Mensch stumpft ab.
Moderne Unterhaltungskultur ist eine Ersatzhandlung
Der Adrenalinjunkie, der am Bungeeseil kopfüber von der Brücke springt, ist Ausdruck dieser seelischen Verkümmerung. Die riesige Liste von Risiken, die allein auf der Wikipedia hinterlegt sind, nimmt mich wunder, welcher Mensch das Verlangen nach diesem Kick haben kann. Ich glaube, kein Mensch, der das Leben wirklich spürt, wäre zu solchem Irrsinn fähig. Daß der Sport als Teil eines Rituals aus Melanesien kommt und erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa als Freizeitvergnügen etabliert wurde, spricht jedenfalls nicht dafür, daß der Europäer ein inhärentes Bedürfnis nach solch unkontrolliertem Risiko hat. Es scheint vielmehr – um mit Kaczynski zu sprechen – eine Ersatzhandlung zu sein für etwas anderes, das uns verlustig ging.
Moderne Musik oder gar Horrorfilme und Splatter, die abseits jeder Handlung die Gewalt zum Selbstzweck erheben und nur ziellos erschrecken wollen, schlagen meiner Einschätzung in dieselbe Kerbe. Wer, der irgend einen Sinn im Leben sieht, guckt Filme, in denen Menschen abgeschlachtet werden? Was versucht man damit zu bezwecken?
Der Luxus der Moderne und letztlich auch die Distanz zum natürlichen Lebensraum lassen Apathie das Menschenleben beherrschen. Wer das wirklich verstanden hat und nicht bereits zu Tode domestiziert wurde, muß die moderne Gesellschaft schon hassen, daß sie uns in einen wattigen Goldkäfig sperrt, der unseren Willen zur Bejahung des Lebens erlahmen läßt.
Winterspaß: Eisbaden
Das ist auch der Grund, weshalb ich mit dem Eisbaden angefangen habe: die Herausforderung. Nicht wegen der gesundheitlichen Argumente. Diese interessieren mich nicht, und ich glaube auch nicht an einen signifikanten Einfluß. Gesundheit ist wie so vieles zu großen Teilen genetisch determiniert, und auch wenn man sie massiv schädigen kann, ist eine signifikante Optimierung nach oben – wie bei der Intelligenz – in meinen Augen Wunschdenken.
Doch wen kümmert der gesundheitliche Effekt, wenn er den psychischen erfährt? Daß all die Fleischsäcke, die ihre feisten Leiber bei sommerlichen 30°C so gern am Ufer räkeln und dabei den Strand vermüllen, sich zur winterlichen Jahreszeit hinter dem Ofen verkrochen und schamlos den See geräumt haben zugunsten einer anderen Sorte Mensch, sollte dem Seelenadel doch bereits als Argument reichen.
Dieses objektiv meßbare Unterscheidungskriterium ist fast noch besser, als das Baden selbst. Der Kälte zu widerstehen, die mit eisigen Wassern nach nach dem Herzen greift, und doch nicht bis in die Eingeweide dringen kann… Bis sich schließlich eine Hitze einstellt, die die Kälte ganz vergessen läßt – beim Verlassen des Wassers spürt man die winterlichen Minusgrade gar nicht mehr. Der Körper glüht von innen heraus.
Während die Haut sich straff und voll Spannkraft fühlt, der Leib geradezu explodieren möchte, um seiner Kraft Ausdruck zu verleihen, ist der Geist gereinigt und aller Negativität enthoben. Man kann den Tatendrang kaum zurückhalten. Es ist ein Hochgefühl, wie ich es mir im Drogenrausch vorstelle – nur, daß man sich damit eben nicht schädigt.
(Zumindest, solange man es richtig macht. Ich übernehme keine Haftung für Selbstversuche. Jeder ist für sich selbst verantwortlich.)
Der Laue hat nur sein blankes Überleben
In solchen Situationen durchzucken mich gern auch Geistesblitze, die in klarster Vollendung urplötzlich vor mein Auge treten. Es sind vielleicht nicht die tiefsten, mit Sicherheit aber die schönsten Gedanken, die unter solchen Bedingungen den Weg in mein Bewußtsein finden. Und mir für meinen Teil ist das fast noch wichtiger als der rein praktische Nutzen. Nutzen hat man genug im Leben; Schönheit ermangelt unsere Zeit ganz gewaltig.
Und das ist eigentlich auch des Pudels Kern: Die triste Langeweile der modernen Annehmlichkeiten zeichnet sich durch nichts aus, das man mit Schönheit bedenken könnte. Sie taugt nicht dazu, etwas hervorzubringen, dessen man selbst oder andere Würdigung zollen könnten. Von oberflächlicher Annehmlichkeit mag sie sein, aber Respekt gebietet hier gar nichts.
Ich komme nicht umhin, auf meinen Artikel zu Hans-Ulrich Rudel zu verweisen. Bereits dort bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß äußerer Zwang notwendig ist, um eine wahrhaft große Seele zu veredeln. Und das mag auch für weit kleinere Maßstäbe gelten als einen Weltkrieg: Irgendwann muß man im Leben etwas auf sich nehmen, um Wert zu beweisen. Die Lauen, Unentschlossenen sind noch nicht einmal gut genug für die Hölle und müssen die Ewigkeit im Vestibül des Infernos zubringen, wie es Dante im dritten Gesang seiner Göttlichen Komödie prophezeit:
Vom Tode haben diese nichts zu hoffen,
ihr Leben ist so blind, ist so gemein,
daß jedes andre Los für sie ein Neid.
Getilgt ihr Name in der Welt, verworfen
von Gnade und Gerechtigkeit ihr Wert.
Wer das Leben nicht spürt, hat am Ende auch nichts anderes als sein Dahinvegetieren. Es ist alles, was ihm bleibt. Wer mehr will, gibt sich einen Ruck. Und steigt ins kalte Wasser.