Die Medien sind sich uneinig, was das aktuelle Leseverhalten der Deutschen anbelangt. Die Zeitverwendungserhebung aus dem Jahr 2022 beispielsweise gab an, dass die tägliche Lesezeit der Deutschen, was den Konsum von digitalen und gedruckten Medien anbelangt, binnen zehn Jahren um fünf Minuten pro Tag von 32 Minuten in den Jahren 2012/2013 auf 27 Minuten im Jahr 2022 zurückgegangen sei.
Auffällig war damals jedoch, dass es vor allem Frauen waren, die noch immer viel lesen und das im Durchschnitt sechs Minuten länger pro Tag als Männer der gleichen Altersgruppe. Auch mehrere Buchhändler wichen von dem Ergebnis der Studie ab und berichteten, dass in den letzten Jahren wieder mehr und mehr gedruckte Medien gekauft wurden. Lustigerweise seien es gerade die sozialen Medien, allen voran die Leseempfehlungen verschiedener Leseinfluencer in sogenannten „booktok“-Videos, die das junge Publikum zum Buchkauf verleiten.
Erste Liebe, Klischees und Drama
Wer heutzutage eine große Buchhandlung betritt, kann sich vor lauter Auslagen schnell in den aktuellen Lesetrends verlieren und landet sodann an Tischen voller rosa, blumig oder im Comic-Stil illustrierter Liebesromane. Young Adult und Dark Romance heißen die beiden Genres, die aktuell besonders bei jungen Frauen und Mädchen durch die Decke gehen. Young Adult, sprich „junge Erwachsene“, ist ein Genre, in dem die Protagonisten meistens zwischen etwa 16/17 Jahren und Mitte zwanzig alt sind. Sie beenden gerade die Schule oder beginnen ihr Studium und damit einen neuen Lebensabschnitt an der Universität. Die Romane sind meist sehr einfach in schlichter Sprache verfasst und bedienen sich oft klischeehaften Beziehungsentwicklungen (Tropes), wie zum Beispiel von Feinden zu Liebhabern, die arme Protagonistin trifft auf den reichen Macho oder das hässliche Entlein verliebt sich in den beliebtesten Schüler oder Studenten der Universität.
In den Romanen geht es häufig um die erste Liebe, Lust, Leidenschaft, Betrug, Beziehungen, Lügen und vieles mehr. Viele der Bücher, die sich mittlerweile in den Auslagen bei Thalia wiederfinden, starteten einst als Fanfiction oder einfach als anonym veröffentlichte Liebesgeschichten auf der amerikanischen E-Book-Plattform „Wattpad“. Damals wurden sie von unbekannten jungen Frauen hochgeladen. Inzwischen wurden viele der Geschichten zu weltweiten Bestsellern und teilweise auch für die große Leinwand oder für Streaming-Plattformen wie Netflix oder Amazon-Prime verfilmt, so zum Beispiel die amerikanische After-Reihe von Anna Todd, die ursprünglich als Harry Styles-Fan Fiction startete oder auch die „Culpa Mia“-Reihe, der argentinischen Autorin Mercedes Ron, die nach zwei erfolgreichen spanischen Filmen nun sogar noch ein englisches Remake auf Amazon Prime bekommen hat.
Sex als Ersatz für Charakterentwicklung
Egal, ob die „Save Me“-Trilogie von Mona Kasten, auch bekannt als Maxton Hall und ein weltweites Phänomen aus Deutschland, oder besonders woke, überladene Geschichten wie „Perfect Addiction“, alle Erzählungen vereinen, die meist sehr aufgesetzten, stereotypisierten Charaktere und Handlungen, mit Boxwettkämpfen, illegalen Autorennen und exzessiven Parties sowie die allesamt explizit beschriebenen Liebesszenen. Während dem Leser aufgrund der detaillierten Schilderungen wenig Möglichkeit für die eigene Interpretation oder Vorstellungskraft übrig bleibt, scheinen die Hauptprotagonisten ihre Beziehung und Liebe meist nur über die sexuelle Anziehung zueinander zu definieren. Eifersucht, Lügen oder Gewalt wirken hier häufig hinfällig und einerlei, sobald sich die beiden Liebhaber wieder einmal ausgezogen haben. Ein Schelm also, wer annimmt, derartige popkulturelle Einflüsse würden bei jungen Frauen und Mädchen so mancherlei falsches und ungesundes Beziehungsbild befeuern.
Pornographie in der Jugendbuchabteilung
Das „Dark Romance“-Genre setzt dem ganzen noch eine Schippe drauf, denn hier geht es nicht einfach nur um Romantik, sondern in den allermeisten Fällen um die Romantisierung und damit auch zugleich die Verharmlosung von Stalking, expliziter Gewalt, Entführung, Mord oder auch Pädophilie. Viele der Bücher haben sogar extra Triggerwarnungen, auf die schon auf dem Cover des Buches hingewiesen wird. „Haunting Adaline“ beispielsweise, einer der wohl bekanntesten Romane dieses Genres, warnt eingangs sogleich vor den behandelten Themen, wie Folter, erzwungener Sex aka Vergewaltigung, Tod einer nahestehenden Person, Gewalt im Allgemeinen, Verstümmelung, Entführung, Erbrechen und so weiter. Die gesamte Geschichte baut darauf auf, dass die Protagonistin von einem Stalker heimgesucht wird und nach mehrfach erzwungener Intimität, die natürlich auch hier explizit geschildert werden muss, schließlich doch ein gewisses Verlangen nach eben diesem Stalker verspürt.
Klingt also sehr romantisch und nach der perfekten Gute-Nacht-Lektüre für junge Frauen und Mädchen. Das Perfide: Auch wenn sich die Autoren und Buchhandlungen damit rühmen, Leseempfehlungen ab 18 für derartige Romane abzugeben, so gelangen Bücher wie Hunting Adaline dennoch immer häufiger in die Hände sehr junger Leserinnen, was nicht zuletzt auch durch reichlich Werbung in den sozialen Medien über „booktok“ befeuert wird. Und, auch wenn es sich hier natürlich um Fiktion handelt, lässt sich trotzdem nicht leugnen, dass derlei Darstellung von Gewalt, Unterwürfigkeit und einem unausgeglichenen, toxischen Verhältnis zwischen Männern und Frauen etwas mit dem Leser macht – und wenn es sie nur abstumpft.
Von wegen weibliche Unschuld
Dass auch gerade junge Frauen so anfällig für derartige Lektüre sind, die nicht zu Unrecht auch gerne als „Hausfrauenporno“ verschmäht wird, lässt sich durchaus auf das unterschiedliche Verhalten von Männern und Frauen im Umgang mit der Aufnahme von Pornografie zurückführen. Während Männer eher zum Visuellen tendieren, sind es Frauen, die derartige Inhalte gerne hören oder eben lesen.
Wenn eine Frau Euch Männern also mitteilt, dass sie gerne liest, solltet ihr vielleicht dreimal nachfragen, was sie damit meint. Und ihr Frauen solltet Euch überlegen, ob weniger nicht vielleicht doch mehr ist und ihr nicht lieber mal eine klassische Frauen- oder Liebesgeschichte lest, wie zum Beispiel „Stolz und Vorurteil“, „Effi Briest“, „Betty und ihre Schwestern“ oder „Die Leiden des jungen Werthers“.
In diesem Sinne mehr Romantik weniger Erotik!