Seit einigen Minuten verharre ich, den Brunftschrei eines Rehs imitierend, in einem Busch. Um mich herum im Wald kündet verräterisches Knacken von Zweigen und Rascheln der Blätter vom Erfolg meiner Mühen. Die Sicht wird durch dichtes Blattwerk eingeschränkt. Doch man kann sich eben nicht alles aussuchen. Dann schält sich vorsichtig eine Silhouette aus dem grünen Dickicht.
Ich reiße die treue Flinte empor und sende mit lieben Grüßen einen Schwall Rehposten gen Wild. Es zuckt zusammen und springt zurück ins dunkle Grün. Für einen zweiten Schuss aus dem anderen Lauf ist weder Zeit noch Sicht gegeben. Der Jagdhund und ich stoßen auf und hinterher. Ein prüfender Blick auf den Blutspritzer beim Anschusspunkt legt nahe, dass der scheue Racker nicht weit gekommen sein kann. Erleichterung, denn unsere Nachsuche wird nicht allzu lange dauern. Der Bluthund übernimmt ab hier.
Wie euer Brudi zur Jagt kam
Mit theHunter:Call of the Wild™ haben die Entwickler 2017 ein weiteres Spiel herausgebracht, welches sich mit der Jagd befasst. Es wird auch heute noch weiterentwickelt und mit sogenannten DLCs aufgestockt. Die relativ dürftig angegebenen Mindestsystemanforderungen reichen tatsächlich aus, das Spiel für den Spielspaß angemessen auf dem heimischen Computer zum Laufen zu bringen. Denn auch wenn die Schönheit der Grafik in diesem Fall einen wichtigen Aspekt des Spielerlebnisses ausmacht, so ist freilich der für Außenstehende kurios wirkende Spielspaß nicht unbedingt davon abhängig.
Auch ich fand die meiste Zeit meines Zockerlebens Videospiele, die sich um die Jagd drehen, wenig ansprechend: In Ego-Perspektive Hirsche und andere Tiere auf Distanz umzulegen erschien mir früher doch etwas anspruchslos oder allgemein langweilig. Jagdsimulatoren gibt es ja deutlich länger als 2017.
Das Thema Jagd hingegen faszinierte mich doch auf eine vielleicht morbide Art deutlich länger, insbesondere im historischen Kontext. Als komplexes, oft ritualisiertes Vergnügen und Privileg des Adels mit mannigfaltigen Facetten oder Protokollen je nach Raum, Zeit und Anlass. Diese Form der Jagd gibt es heute weltweit nur noch ausgesprochen selten. In keinem mir bekannten Spiel wird diese Hofjagd dargestellt. Doch das Jagen und Erlegen von Tieren zum Stillen eines uralten Jagdtriebs, der heute in noch so vielen Menschen lebt, fütterte lange Zeit das Interesse in mir.
Wie es sich für die Persona des Brudis gehört, bekam ich zuerst auf Twitter wirklich vom Spiel zu hören. Die allgemeine Existenz dieses Genres war mir zwar durchaus bekannt, aber ich hatte gerade ein 1724 erschienenes Buch über den „vollkommenen teutschen Jäger“ gelesen, als ich in der sogenannten Zeitlinie auf den Beitrag eines Anwenders stieß, der das Spiel thematisierte. Also fragte ich ungeniert nach, ob er es empfehlen würde, was er durchaus bejahte. (Lustigerweise kam ein zweiter Anwender mit ähnlich vielen Spielstunden dazu und riet mir vom Kauf ab.)
Ausrüstung und Tierwelt
Der einleitende Erfahrungsbericht stellt eine normale Situation in dem Spiel da. Es gibt verschiedene Karten, der Kunde ohne DLCs erhält zwei, eine in den USA, eine in Deutschland. Alle Karten sind dabei sehr groß, etwa das Drittel einer ArmA-Karte. Die vier relevanten Waffenarten für den Pixeljäger sind Gewehre, Schrotflinten, Pistolen und Bögen. Diese benutzt man freilich, um die Population der Wildbestände etwas zu lichten.
Die Fauna teilt sich dabei in neun verschiedene Größenklassen zwischen Wachteln und Büffel ein, die entsprechend mit dem richtigen Kaliber zu bejagen sind. Enten sollte man in der Regel also mit Kleinkaliberwaffen oder Vogelschrot am Weiterzug hindern, nicht mit der Elefantenbüchse. Auch haben die allermeisten Waffen verschiedene Munitionstypen, was man sonst nur in MilSims wie ArmA findet. Mit diesen schreitet man dann durch Feld und Flur, auf der Suche nach optischen wie akustischen Hinweisen auf potenzielle Beute, wie Spuren, Brunftschreie oder das Tier selbst. Von denen gibt es pro Karte etwa acht verschiedene Spezies, aber manchmal können es auch 18 sein. Das reicht von kleinen Vögeln über Hasen, Füchse, Hirsche, Elche bis zu Löwen.
Die Tiere werden einzeln generiert, was Gewicht, Geweih, Fellfarben etc angeht. Also sind jedes Tier und Geweih einzigartig, was das Ausstopfen und Sammeln Selbiger besonders interessant macht. Die verschiedenen Spezies haben auch unterschiedliche Stärken, was ihre Sinnesorgane angeht: Einige können extrem gut riechen, andere sehen dich auch bei Nacht oder hören deine unvorsichtigen Schritte über hunderte Meter entfernt. Eigentlich stehen Menschen allgemein hier ob der Fluchtfähigkeit der Tiere vor einem beinahe unlösbaren Problem. Aber frei nach Oberstleutnant Sanftleben: „Was den Menschen vom Tier abhebt, ist die Distanzwaffe“. Und, nun ja, davon macht man hier ausgiebig Gebrauch.
Der Schuss muss sitzen
Wichtig ist hierbei natürlich der richtige Schuss. Distanz, Wind, Munition, alles spielt eine Rolle und nach dem Abdrücken ist freilich erstmal jegliches Wild im weiten Umkreis auf der Flucht. Geduld spielt hier ebenso eine Rolle wie rudimentäres Wissen über tierische Anatomie und Schusswaffen.
Im Gegensatz zu fast jedem Egoshooter wird aus mehreren Gründen der Schuss auf den Kopf kaum praktiziert: Kopftreffer bedeutet nicht gleich Hirntreffer, sie sind dazu generell nicht leicht und man zerstört wahrscheinlich die Trophäe. Der sogenannte Blattschuss auf die Lunge ist deutlich sicherer und effektiver. Denn das Tier fällt nicht sofort um, wie zum Beispiel ein Soldat in Call of Duty, sondern blutet aus der Wunde und wenn man nicht sauber geschossen hat, besteht man die Integritätsprobe nicht oder das Tier entkommt gar schwer verletzt. Auf jeden Fall wird die Nachsuche lange dauern und lange Nachsuchen kennt jeder Spieler aus leidiger Erfahrung.
Diese Kombination aus dem schleichenden Anpirschen, Beobachten, Abwarten, Zufall und präzisem Schuss bringt deutlich mehr Spannung mit sich, als der geneigte Leser vielleicht erwarten würde. Vom Grundprinzip ähnelt es einer Scharfschützensimulation. Jeder der in ArmA mal auf einer Schleichmission gedient hat, wird das Grundprinzip verstehen.
Die Tiere schießen zum Glück nur nicht zurück. Aber insbesondere Herdentiere wie Wildschweine, Kaffernbüffel und Spießböcke können einmal aufgeschreckt Jagdunfälle und somit diverse Erbfolgekrisen auslösen. Wir alle kennen es aus Game of Thrones oder Europa Universalis. Es bleibt also durchaus auch ein wenig gefährlich. Neben Distanzwaffen darf der Jäger sich auch anderer Mittel bedienen: Lockrufer, Attrappen, Tarnzelte, Geruchsunterdrücker, um nur ein paar zu nennen. Hier schlägt natürlich manchmal die DLC-Falle zu, aber die wichtigsten Objekte kann man sich erarbeiten oder erhält sie direkt zu Anfang des Spiels.
Ein positives Bild des Jägers
Jedes Revier hat Missionen, die eine (nicht immer spannende) Geschichte erzählen und Geld sowie Erfahrung geben. Die Erfahrungspunkte investiert man in neue Fähigkeiten wie langsameres Anpirschen durch Blattwerk, weniger Rückstoß, bessere Spurenerkennung und vieles mehr. Das Geld fließt in Ausrüstung, vor allem Munition und neue Waffen. Ja, jeder Schuss kostet sogenannte Hunterdollar, die man erst verdienen muss. In den Missionen unterstützt man den lokalen Wildhüter sowie seine Freunde, indem man Fotos von Tieren macht, Wildererfallen zerstört, Schädlinge jagt usw.
Insgesamt wird ein positives Bild des Jägers gezeichnet, der die Natur in all ihrer Schönheit ehrt, Tieren kein unnötiges Leid zukommen lassen will und das Gleichgewicht des Ökosystems wahren möchte. Die Qualität der jeweiligen zusammenhängenden „Story“ variiert je nach Jagdrevier.
Gemeinsam durch das schöne Revier
Die eingangs erwähnte Grafik des Spiels macht die diversen Landschaften der Jagdreviere (Karten) welche auf allen Kontinenten (Antarktis mal ausgenommen) zu finden sind, richtig lebendig. Das Spiel mit dem Licht und Laub wirkt sehr harmonisch, die Umgebung ist stets besonders und meistens sehr hübsch anzusehen. Jedes Revier unterscheidet sich, abgesehen von den zu jagenden Tieren, auch massiv in der Stimmung. Man sieht und jagt in CotW deutlich mehr Tiere auf einem Jagdausflug als im echten Leben, aber es ist trotzdem auch eine Art Wandersimulator, da ist eine schöne Natur nicht nur dem Namen, sondern auch dem allgemeinen Spielspaß geschuldet. Das liefert jedes Jagdrevier auf eine individuelle Weise und man erwischt sich selbst alle paar Minuten beim Staunen ob der Ästhetik der frei erfundenen Landschaft auf seinem Monitor.
Interessanterweise hält das Jagdrevier Hirschfelden (im Standardspiel enthalten) für so ziemlich alle deutschen wie mitteleuropäischen Spieler einen festen Platz im Jägerherz. Die Vertrautheit der Heimat schlägt für die meisten den Reiz des Exotischen.
Der besagte Spaß rührt auch aus der ruhigen Art des Spiels, insbesondere kommt dies im Mehrspielermodus zur Geltung: Mit Freunden und einigen RT-Anwendern durfte ich schon gemeinsam durch Taiga, Outback, Savanne und Co streifen. Es ist nicht so hektisch wie Rocketleague, Counterstrike oder League of Legends. Und das merkt man. Man kann sich vergleichsweise sehr gut unterhalten, der Stressfaktor ist nicht hoch und dennoch gibt es alle paar Minuten was zu sehen, zu schießen, zu tun. Spiele können ruhig und entspannend sein, theHunter: Call of the Wild würde ich definitiv in diese Kategorie stecken. Zu zweit oder dritt auf Spuren zu reagieren, die Anschüsse zu planen und gemeinsam Tiere in gute Schusslinien zu locken ist ein Spaß, der meistens mehr als abendfüllend wird. Die Lernkurve ist nicht hoch, erst recht, wenn man mit seinen erfahrenen Freunden jagt und Verbindungsprobleme sowie Sitzungen zu eröffnen machen in der Regel auch keine Probleme.
Das könnte besser sein
Nun habe ich selbst fast 300 Stunden in virtuellen Jagdrevieren akkumuliert und bereue es nicht, will aber auch die Schwächen nicht unerwähnt lassen. Und das wären in erster Linie die Bugs. Selten glitche ich mich fest, wenn ich den Hund streicheln will und jedes Mal verschwindet er für meine Mitspieler, wenn ich die Schnellreisefunktion nutze.
Bei jedem erlegten Tier kann man bei Auffinden des Kadavers eine Ansicht des Schusses aktivieren, der eine Röntgenschau auf den Kugelkanal sowie die Organe des Tieres zeigt. Diese ist im Mehrspieler in der Hälfte der Fälle leider nicht zu gebrauchen, da der Winkel gespiegelt oder die Schützen vertauscht werden. Einmal war der Nullpunkt meiner Schrotflinte auf 100m festgebuggt, das hätte mit der Munition gar nicht klappen dürfen und versaute mir einen Anschuss. Selten stürzt das Spiel einfach ab. Nicht oft, aber doch ein wenig häufiger, als man es sonst gewohnt ist.
Die DLC-Politik ist hinnehmbar, aber offen (und recht erfolgreich) darauf ausgerichtet, gerade den Langzeitspielern möglichst viele kostenpflichtige Zusatzinhalte für kleine Münze anzudrehen. Das sind meistens Waffenpakete und Karten, aber auch der Jagdhund oder Trophäenhütten. Insbesondere die Trophäenhütte, die das Standardspiel mitgibt, ist kümmerlich klein und überhaupt kein Vergleich zu den DLC-Hütten, die das zwanzigfache an Stellplätzen haben. Diejenigen, die das Spiel „abholt“, geben die etwa 4€ dafür doch recht schnell aus, denn so toll das Jagderlebnis sein mag, den Hirsch in Diamantwertung will man ausstellen und seinen Freunden zeigen.
Fazit
Warum man den Waldgang im echten Leben wagen sollte, statt zuhause zu zocken, muss ich niemandem erklären. Und wer wirklich etwas über die komplexe und altehrwürdige Welt der Jagd lernen, oder wirklich den Hirsch durch Dickicht und Wald verfolgen möchte, ist mit dem Spiel natürlich nicht bedient und in einer Jagdschule besser aufgehoben. Man nimmt durchaus ein bisschen Wissen mit, aber über Rechtslage, Tradition, Ausnehmen, Nachbereitung, Waffenhandhabung etc. lernt man hier kaum etwas. Das Messen gegen die Natur erlebt man in CotW durchaus auf mehreren Ebenen, aber freilich nicht in der Intensität, wie in Wirklichkeit. Dafür darf man aber auch mit Schrotflinten in Deutschland oder Löwen in Afrika jagen, ohne viel Geld auszugeben, es tut keinem realen Tier weh, wenn man es falsch trifft, und überhaupt bleiben die eigenen Hände sauber.
Wer also Spaß an Spielen hat, die -zumindest meistens- wenig hektisch sind, Positionswahl sowie Schleichkünste stark ansprechen und durch optische Schönheit beeindrucken, sollte über die Einnahme der Jagdspielpille nachdenken.