Seit einigen Jahren sehe ich mir zur Weihnachtszeit die 2009er Disney-Verfilmung von Charles Dickens Weihnachtsgeschichte an. Durch ihre romantische Darstellung vom London des 19. Jahrhunderts in Kombination mit der Szenerie eines Winterwunderlands weckt sie in mir eine fast kindliche Weihnachtsstimmung, so wie es eben nur ein Zeichentrickfilm vermag. Wer sich jedoch ernsthaft mit Dickens „Christmas Carol“ beschäftigen möchte und eine realistischere Umsetzung bevorzugt, sollte unbedingt auf den britischen Klassiker von 1951 zurückgreifen.
Worum geht es?
Sollte tatsächlich jemand Dickens Weihnachtsgeschichte noch nicht kennen, der Inhalt ist schnell zusammengefasst: London am 24. Dezember 1843. Der alte, geizige und verbitterte Kaufmann Ebenezer Scrooge verabscheut Weihnachten. Für ihn ist es lediglich eine Ausrede, um zu faulenzen. In derselben Nacht erscheinen ihm drei Geister, die ihm die Weihnachtsfeste seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zeigen. Scrooge wird dadurch gezwungen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Er legt letztendlich die Charaktermaske des missmutigen Geizkragens ab und beginnt, seine armen Mitmenschen zu unterstützen und Weihnachten zu feiern.
Ein neuer Blick auf die soziale Frage
Die soziale Frage ist augenscheinlich das zentrale Thema der Erzählung. Dennoch habe ich sie dabei nie als Politikum wahrgenommen oder unbewusst auf der linken Seite verortet. Nachdem ich Dickens „Christmas Carol“ im Original gelesen und die Verfilmung aus dem Jahr 1951 gesehen hatte, setzte sich bei mir allerdings eine andere Lesart durch.
Bei der Beschäftigung mit den Begriffen, die das heutige politische Koordinatensystem noch immer umreißen, wurde mir klar, warum ich den Film unbewusst in die linke Ecke gesteckt hatte: Die mainstreamkonservative Fraktion fühlt sich in der ihr angedachten Rolle des wirtschaftsliberal-individualistischen und spießigen Verfechters der Leistungsgesellschaft recht wohl. Sie hat jegliche authentische Gemeinwohlorientierung gekonnt aus ihren Köpfen und ihrer Außendarstellung verbannt. Damit ist es der Linken gelungen zu suggerieren, Themen der sozialen Gerechtigkeit könnten nur von ihr angesprochen werden.
Auch wenn die Forderungen der Sozis in der Praxis wenig glaubwürdig sind, wird das zugrundeliegende Narrativ nicht infrage gestellt. Ich war also in eine metapolitische Falle getappt. Mehrere Aspekte in der Weihnachtsgeschichte gaben mir hierbei einen besinnlichen Anstoß. So spricht sich Dickens nicht für politische Reformen, eine Erhöhung der Umverteilungsmasse oder gar eine sozialistische Revolution aus, was vor dem historischen Hintergrund der Industrialisierung durchaus möglich gewesen wäre: Er zielt auf das Mitgefühl des Einzelnen ab.
Was die Verfilmung von 1951 besonders macht
Die Weihnachtsgeschichte wurde bereits unzählige Male verfilmt. Recherchiert man hierzu im Internet, wird häufig die britische Verfilmung von 1951 als die beste Adaption angeführt. Interessanterweise hatte der Streifen, als er in die Kinos kam, nur mäßigen Erfolg. Erst durch die regelmäßige Ausstrahlung zur Weihnachtszeit erlangte er über die Jahre einen Kultstatus.
Generell sprechen mich Inszenierungen an, die der Originalvorlage treu bleiben, d.h. keine neuen Charaktere oder Handlungsstränge einfügen und die Figuren selbst auch in der Form darstellen, wie sie vom Autor ursprünglich gedacht waren. All dies trifft auf die beschriebene Verfilmung zu. Lediglich eine Nebenfigur wurde harmonisch hinzugefügt. Doch dazu später mehr.
Teilweise werden feine Details aus Charles Dickens Erzählung gezeigt. So zum Beispiel, als der noch griesgrämige Scrooge zu Beginn von der Arbeit nach Hause durch die schneebedeckten Straßen Londons stapft und die Menschen ihm aus dem Weg gehen. Dickens beschreibt in einem Satz, dass sogar der Hund eines Blinden ihn zu kennen scheint und sein Herrchen vom herannahenden Scrooge wegführt. Selbst dieses Detail wird in einem kurzen Moment gezeigt.
Scrooge steht im Mittelpunkt
Daneben beeindruckte mich auch die Darstellung der Hauptfigur. Der Regisseur Brian Desmond Hurst gibt ihr mehr Platz als in anderen Inszenierungen und teilweise sogar mehr als bei Dickens selbst. Nicht umsonst lautet der englische Originaltitel des Films kurzum „Scrooge“. Insbesondere durch verschiedene Rückblenden in dessen Vergangenheit zeigt der Film, dass Ebenezer Scrooge nicht immer dieser verbitterte Geizkragen war, den wir heute mit ihm verbinden. Im Unterschied zur eingangs erwähnten Disney-Verfilmung wirkt Scrooge anfangs nicht einfach nur gehässig, sondern man merkt ihm eine bedrückende Last an. Dies liegt nicht zuletzt an der eindrucksvollen Darstellung des Hauptcharakters durch Alastair Sim.
Sim war Hursts erste Wahl für die Rolle. Sein Porträt der Persönlichkeitsentwicklung von Scrooge wirkt derart überzeugend, dass ich selbst überrascht war, zu erfahren, dass er bis dato für die Darstellung lustiger Figuren bekannt war. Das wiederum erklärt seine gekonnte Darbietung des überglücklichen und entfesselten Scrooge am Weihnachtsmorgen.
Als der Film 1950 gedreht wurde, war es – besonders für betagtere Schauspieler – nicht unüblich, mit der übersteigerten Gestik und Sprache des Theaters zu arbeiten. Der damals 51jährige Alastair Sim (der jedoch deutlich älter wirkt) tut dies glücklicherweise nicht. Er belässt es bei einer realistischen Darstellung, wobei er insgesamt nur wenig Worte benötigt, um Emotionen zu vermitteln und der Figur den ihr gebührenden Tiefgang zu verleihen. Sei es der kaltherzige, geizige aber auch traurige Scrooge zu Beginn, der ängstliche als ihn die Geister besuchen oder der reuige, aber glückselige am Ende. Er ist einfach Scrooge.
Vom verbitterten Geizkragen zum großherzigen Gentleman
Die Hauptfigur ist facettenreicher als das Bild, das die meisten Menschen von ihr haben. Der alte Ebenezer Scrooge ist zwar übermäßig streng zu seinen Mitmenschen, aber auch gegen sich selbst. Er analysiert die Gründe eines Schuldners, der einen Zahlungsaufschub erbittet, genauso sachlich, wie er auf ein Stück Brot zum Abendessen verzichtet, nachdem ihm der Kellner den Preis genannt hat. Er ist ein durch und durch nüchterner Mensch.
Dickens deutet in seiner Erzählung auch nie an, dass Scrooge als Kaufmann unlautere Mittel angewandt hätte, um sein Vermögen zu mehren. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass er es durch viel Arbeit, Zeitaufwand, Kompetenz und Sparsamkeit dazu gebracht hat.
Scrooge war jedoch nicht immer der alte und verbitterte Geizkragen, der er zu Beginn der Erzählung ist. Er hat Schicksalsschläge erlitten und Entscheidungen getroffen, mit denen er selbst nicht glücklich ist. Insgeheim weiß er, dass er seinen Lehrmeister, seine Schwester und seine Frau verraten hat und das alles nur des Geldes wegen. Hierdurch wurde er zu jemandem, der eigentlich nicht ist. Bis zu eben jenem Weihnachtsfest 1843 fehlte ihm die Kraft, sich dies einzugestehen. Erst durch die Begegnungen mit den Geistern stößt er auf einen Teil seines Selbst, den er jahrzehntelang unterdrückt hat. Tut er Weihnachten anfangs als sinnlosen „Humbug“ ab, wird ihm langsam die Bedeutung bewusst – Scrooge akzeptiert sich schließlich selbst als den Menschen, der er unter der Oberfläche immer war.
Echte Solidarität heißt selbst etwas zu geben
Wer unter Schlagwörtern wie „Solidarität“ und „Gerechtigkeit“ nach einer Vermögensabgabe ruft, im Wissen, diese nicht leisten zu müssen oder gar davon zu profitieren, ist ein Heuchler. Um aufrichtig sozial handeln zu können, muss man sich selbst erst einmal in die Position bringen, etwas geben zu können. Nur, wenn man aus eigener Überzeugung vom eigenen Vermögen einen Anteil an Bedürftige abgibt, handelt es sich um echte Mildtätigkeit.
Dies ist ein gewaltiger Unterschied zum heute allgegenwärtigen linken Ansatz, bei dem aufgebauschte, moralische Forderungen bloß ein Vorwand sind, um sich selbst wichtig zu machen, die eigene Inkompetenz zu kaschieren und eine realitätsfremde Ideologie durchzusetzen. Und dieser Vorgang wird eben jenen Heuchlern, aufgrund fehlender Selbstreflexion, meist nicht einmal bewusst.
Fezziwig der ehrbare Kaufmann
Es geht Dickens nicht darum, den Kapitalismus als solchen zu kritisieren. Mit der Figur des Fezziwig – dem Lehrmeister von Scrooge – hat er einen Kaufmann vom alten Schlag geschaffen. Diesem Charakter gibt die Verfilmung von 1951 mehr Raum als die ursprüngliche Weihnachtsgeschichte von Dickens.
Gerade die Inszenierung vom „alten Fezziwig“ war ein wesentlicher Grund, mich für diese filmische Umsetzung zu entscheiden. So wird nicht nur gezeigt, wie er für seine Angestellten ein Weihnachtsfest gibt, sondern auch ein vorteilhaftes Kaufangebot für sein Unternehmen ablehnt. Er begründet dies damit, sein Geschäft nicht nur um des Geldes willen aufgebaut zu haben. Als Geschäftsmann sieht er sich in der Verantwortung ein Vorbild zu sein und Traditionen zu bewahren.
Diese Haltung ist bei den amerikanisierten Geschäftsmännern heutzutage wohl nur noch ein aufgesetztes Mittel zum Zweck. Der Gegenpart zu Fezziwig ist der – tatsächlich in dieser Verfilmung erfundene – Mr. Jorkin, der ihm sein Unternehmen abkaufen möchte. Er verkörpert den progressiven, unlauteren Händler, dessen Fokus primär auf Gewinnmaximierung gerichtet ist. Durch ihn wird in Scrooge erstmals die Geldgier geweckt.
Das Hinzufügen dieses negativen Charakters wirkt derart stimmig, dass ich, nachdem ich den Film gesehen hatte, sogar erstaunt war, Mr. Jorkin im Original gar nicht zu finden. Die 1951er Verfilmung bestärkt so das Bild Fezziwigs als ehrbaren Kaufmann und geschätzten Arbeitgeber.
Authentische Weihnachtsstimmung garantiert
Es gibt noch weitere Szenen, die den Film sehenswert machen. So zeigt die familiäre Weihnachtsfeier der Cratchits, dass dieser Tag auch mit wenig Geld für alle ein gemütliches und besinnliches Fest sein kann.
Am Ende versucht der geläuterte Scrooge mit seinen Mitmenschen ins Reine zu kommen. Es wird sogar noch gezeigt, wie er dem eingangs erwähnten Blinden eine Spende übergibt und dessen Hund streichelt. Das abschließende Bild mit dem kleinen Tim Cratchit an der Hand und dem Lied „Stille Nacht“ im Hintergrund entlässt den Zuschauer mit einem behaglichen Gefühl in die Weihnachtszeit.