Sommerferien. Sommerferien sind eine magische Zeit und wer denkt nicht auch oder gerade als Erwachsener daran gerne zurück? Keine Schule, keine Verpflichtungen und da die Eltern trotzdem arbeiten und Geld verdienen müssen, hat man sechs Wochen praktisch Zeit für sich, seine Freunde und natürlich Abenteuer! Badesee, Zelten, Wandern, Kinobesuche, durch Felder streifen, im Wald Unterschlüpfe bauen und dabei den Sommer genießen. Und wie schmerzlich ist es, wenn diese Zeit enden muss, wenn das neue Schuljahr beginnt.
In The Night of the Rabbit, einem Point-and-Click Adventure von Daedalic Entertainment aus dem Jahr 2013, geht es unserem Protagonisten Jeremias Haselnuss, genannt Jerry, genauso. Er ist ein aufgeweckter, liebenswerter Junge, der in einem gemütlichen kleinen Haus am Rand der Stadt lebt, der nichts mehr liebt als den Brombeerkuchen seiner Mutter, davon träumt ein Zauberer zu werden und gerne Zeit mit dem Spielen im nahen Wald verbringt. Auch für ihn ist es der letzte Tag der Sommerferien, den er für ein letztes Abenteuer nutzen will, bevor es zurück an die Penne geht.
Folge dem weißen Kaninchen
Und da kommt ihm ein merkwürdiger, irgendwie magischer Brief gerade Recht. Nach einem Test Jerrys’ und unserer grauer Zellen treffen wir nämlich auf den Marquis de Hoto, ein großes weißes, anthropomorphes Kaninchen im feinen Ausgehrock. Der Marquis ist ein Magier und sucht gerade einen neuen Schüler und wer passt da besser als ein Junge, dessen größter Traum es ist, ein Zauberer zu werden? Jerry erwartet ein großes Abenteuer und das Beste ist, dass er pünktlich zum Abendessen wieder zurück sein kann, denn für einen Baumläufer ist nichts unmöglich!
Baumläufer? Der Marquis klärt auf, dass diese Magier die Fähigkeit des Weltenwanderns beherrschen. Sie können Portalbäume nutzen, die Verbindungen zwischen Welten, Zeiten und Möglichkeiten herstellen und so verschiedene Realitäten bereisen. Und im nahen Wald steht ein solcher Pfadbaum, der uns den Weg ins Abenteuer ebnen kann. Auf das Versprechen des charismatischen Kaninchen vertrauend, lässt Jerry sein zu Hause hinter sich und wagt den Schritt ins magische Mauswald, wo seine Ausbildung zum Baumläufer stattfinden soll.
Und das, mein sehr verehrtes Publikum, ist Magie!
Als damals der Trailer und Berichte zu Night of the Rabbit erschienen, war für mich als Fan von Adventures generell und den Daedalic-Spielen im Besonderen klar, dass ich es kaufen würde. Daedalic hatte sich hier längst einen Namen gemacht mit Adventures, die kreative Geschichten, abgedrehte aber sympathische Charaktere, hohe Produktionsqualität und vor allem hervorragendes Rätseldesign vereinen.
Die Grafik sah auf den Screenshots bezaubernd und detailverliebt aus und die Story-Prämisse sprach mich direkt an, weil sie mit der Entführung in eine magische Welt und die Ausbildung eines einfachen Jungen zum Magier quasi eine spielbare Michael Ende Geschichte versprach.
Eintauchen in eine magische Welt
Schon Jerrys Zuhause vermittelt mit der goldgelb-grünen Farbpalette, den Ambient-Naturgeräuschen und den einfachen, ruhigen Klängen des Soundtracks die Atmosphäre eines warmen Spätsommertages. So richtig in die Vollen geht es aber dann, wenn wir dem weißen Kaninchen (die Alice im Wunderland-Anspielung dürfte wohl klar sein) dann nach Mauswald folgen, einer Parallelwelt, die Jerrys Welt erstaunlich ähnlich ist, nur dass wir sie eben aus der Größe und Perspektive einer Maus erkunden:
Wir sind klein und alles andere ist riesengroß. Ein kleines Rinnsal wird hier zum glucksenden Kaltwasserbach, ein Weizenfeld zu einem Meer aus übermannshohen Gräsern, normale Nadelbäume zu Waldgiganten, von denen man weit in die Ferne blicken kann, Erdlöcher dienen den Waldzwergen als Behausungen und im Schatten eines Baumes verbirgt sich eine ganze, kleine Stadt mit eigenem Cafe, Rathaus und Apotheke, Stadtmauern und Kanonen, mit denen man sich gegen Krähenangriffe erwehrt.
Und dieser Perspektivenwechsel erlaubt es den Grafikern, sich detailliert und verspielt auszutoben, zwischen Wurzeln, Pilzen, Klee, Gräsern und Kieselsteinen eine kleine Märchenwelt entstehen zu lassen, in der sprechende Tiere und Märchenwesen sich ein eigenes Zuhause erschaffen haben und dafür auch die riesenhaften Hinterlassenschaften von Menschen nutzen. So sendet das örtliche Mauswald Radio aus einem kaputten, weggeworfenen Kofferradio. Nostalgische Erinnerungen an Chip und Chap, Feivel oder Madame Brisby und das Geheimnis von Nimh werden wach und dienten wahrscheinlich auch als Inspiration.
Zusammen mit den quirligen Pelztieren, Jerrys positiver Grundeinstellung und dem ganzen märchenhaften Touch der Welt ist klar, dass sich das Spiel deutlich als eine Geschichte für Kinder versteht, die aber definitiv Erwachsene ebenso dazu einlädt an ihr teilzuhaben. Es ist der Inbegriff von gutem Eskapismus. The Night of the Rabbit ist trotz düsterer Momente einfach eine positive Geschichte in einer freundlichen Welt. In einer Zeit, in der selbstironischer Zynismus oder blanker Nihilismus zum Inventar modernen Erzählens geworden sind, macht das für mich den besonderen Reiz des Spiels aus, der aus auch nochmal deutlich gegen das klaumakige aber ebenso zynisch-bitterböse Deponia abhebt.
Musik des Sommers
Dazu trägt auch und vor allem der orchestrale Soundtrack von Tilo Alpermann bei, der für jeden Schauplatz den richtigen Ton trifft, mit dem Einsatz von Instrumenten spürbar dezent auftritt und statt einem epischen Anschlag auf unsere Ohren (solche Stücke hören wir eher nahe dem Finale) mit volkstümlichen und ländlichen Kompositionen unser Sommerabenteuer in der Natur begleitet. Das immer wieder herauszuhörende Hauptthema wird entsprechend den Figuren oder Schauplätzen, die in den Mittelpunkt gestellt werden, von Stimmung und Instrumenten her variiert und schafft im Soundtrack genug Abwechslung und fängt dabei auch gut die unterschiedlichen Stimmungen ein.
Für einen Baumläufer ist nichts unmöglich
Doch sind wir und Jerry nicht zum Vergnügen in Mauswald, schließlich wollen wir Baumläufer werden und das Zaubern lernen und als echter Baumläufer ist es unsere Aufgabe zu zeigen, dass wir Verantwortung für die Portalwelten übernehmen und ihren Bewohnern helfen können. Anders als viele mehr lineare Adventures entlässt uns Night of the Rabbit hier in seine relativ große, offene Welt, die wir erkunden, deren Bewohnern wir kennen lernen und denen wir mit ihren Problemen aus der Patsche helfen und uns nebenbei ein paar nützliche Zaubersprüche dabei aneignen, die uns verschlossene Areale öffnen. Als Mentor lässt uns der Marquis hier freie Hand, steht aber gelegentlich mit Rat zur Seite.
Genre-typisch lösen wir also Knobelaufgaben, Kombinieren Gegenstände und überzeugen Personen und bahnen uns so unseren Weg durch Mauswald. Man darf keine wirklich harten Kopfnüsse wie bei „Edna bricht aus“ oder „Harveys neue Augen“ erwarten. Das Rätselniveau bleibt durchschnittlich und kann problemlos auch von älteren Kindern und Jugendlichen allein bewältigt werden, jüngere brauchen vielleicht elterliche Assistenz. Allerdings wartet das Spiel neben dem Standard-Repertoire auch mit ein paar originellen Ideen auf und verwebt diese mit der Zaubermechanik. Positiv ist außerdem anzumerken, dass Spielhilfen wie eine inzwischen zum Standard gehörende Hervorhebe-Funktion interaktiver Objekte spielimmanent eingebunden ist und so die Immersion nicht gebrochen wird.
Auch bietet uns Night of the Rabbit eine Reihe von Nebenbeschäftigungen, die dazu anregen, die Welt etwas aufmerksamer zu würdigen. Die befriedigendste Aufgabe ist dabei das Einsammeln von kleinen Geschichten. Der Waldschrat – eine Figur, der wir bereits direkt zu Beginn des Spiels begegnen und die als Erzähler fungiert – sammelt solche Geschichten in seinem Buch. Und wir als Spieler können sie uns als kleine Hörbücher vorlesen lassen. Und das passt sehr gut.
Eine Welt geboren aus Geschichten
The Night of the Rabbit ist nämlich ein Autorenspiel. Geschichte und Weltenbau stammen von Matthias „Matt“ Kempke, der auch an anderen Daedalic Projekten beteiligt war. Der Schauplatz Mauswald im Spiel basiert auf einer Sammlung älterer von ihm erdachter kleiner Erzählungen unter dem Titel „Acht Geschichten aus Mauswald“ und das tut dem Spiel gut, denn man merkt, dass seine Welt nicht nur eine Kulisse ist, sondern durchaus eine Geschichte besitzt. Es ist generell ein Spiel, das vom Motiv des Geschichtenerzählens an sich durchdrungen ist.
Doch es sind nicht nur die Mauswald-Erzählungen des Waldschrats, die das Fundament der Welt bilden, sondern vielmehr verstrickt sich Jerry auch in die Leben der vielen Bewohner, die alle ihre kleinen Alltagsprobleme und Sperenzchen haben und bei denen wir einen Blick in ihre Leben erhaschen. Gerade das macht den Reiz am Spiel aus:
Mauswald ist so idyllisch, dass man einfach gerne mehr und mehr Zeit dort und mit seinen Bewohnern verbringen will, mehr entdecken will, als die Hauptgeschichte einfach nur abzuarbeiten und auf das Finale zuzutreiben. Zumindest, wenn man sich darauf einlässt. Wir erfahren so auch, dass die Pfadbäume, die wir zum Weltenwandern nutzen, auch in Träume und Erinnerungen reichen. Und was sind Erinnerungen anderes als der Kern von Geschichten?
Unheilvolle Vorausdeutungen
Doch dräut über all dem auch die Geschichte hinter der Geschichte. Es kann nicht so idyllisch bleiben. Spannung liegt in der Luft. Ein Mysterium umgibt den Marquis, Geschichtsfäden, die nicht so recht zusammenpassen, Erinnerungen die verloren gingen. Und Unheil deutet sich an, als maskierte Wesen anfangen Mauswald zu unterwandern. Wir und Jerry werden beweisen müssen, dass wir zu wahren Baumläufern gereift und den Herausforderungen und Gefahren eines echten Abenteuers gewachsen sind.
Doch das führt uns leider dazu, an dieser Stelle Wasser in den Blausaft gießen zu müssen.
Zuviel gewollt?
Die von Matthias Kempke entworfene Geschichte war zu ambitioniert und voraussetzungsreich, als dass sie in einem Spiel von dieser Größe befriedigend abgeschlossen und aufgelöst werden konnte. Das Einführen der Portalwelten, die Zauberer-Ausbildung, einige Abenteuer, die absolut notwendig sind, damit wir eine Beziehung zu den Charakteren und dieser magischen Welt aufbauen, sind ein grandioser Einstieg, nehmen aber weit mehr als die Hälfte der Spielzeit ein.
Leider geht dem Ganzen danach die Luft aus. Die gestreuten Hinweise auf die im Hintergrund wirkende Handlung und Bedrohung können sich nicht richtig entfalten. The Night of the Rabbit war kein Hauptprojekt und das Budget für das Spiel, das Kempke machen wollte, nicht ausreichend. Daedalic war nie ein riesiges, finanzstarkes Studio mit gewaltigen Umsätzen, sondern musste bei seinen Produktionen trotz wirtschaftlich erfolgreichen Releases immer auch haushalten. Kempkes Erzählung musste sich hier der wirtschaftlichen Realisierbarkeit beugen und schnell abgeschlossen werden.
Und das macht sich spielerisch unangenehm bemerkbar. Die in Mauswald eindringenden Maskenträger sind im Vergleich zum umfangreichen Einstieg sehr schnell abgefrühstückt, sodass sie signifikant an Bedrohlichkeit einbüßen. Von dort an läuft die Handlung wie auf Schienen weiter, ohne dass wir noch vor größere Puzzles und Rätsel gestellt werden, auch wenn die Geschichte noch mit einigen Wendungen aufzuwarten weiß.
Vergeudetes Finale
Ausgerechnet jedoch im Finale leistet sich die Erzählung aufgrund der Limitierung den größten Patzer und muss den alten Leitsatz “Zeigen statt Erzählen” (Show don’t tell) in den Wind schlagen. Die vom Spiel während der Handlung eingestreuten Hinweise und Vorausdeutungen können nicht mehr richtig zum Zuge kommen.
Weil The Night of the Rabbit nicht mehr die Zeit bleibt, uns interaktiv tiefer in das Mysterium des Marquis eintauchen zu lassen, bekommen wir einen mehrminütigen monologischen Rückblick, der die ganzen Hintergründe erklärt und damit fast alle losen Handlungsfäden aufrollt. Das ist zwar besser als uns mit einem Offenen Ende, unbeantworteten Fragen und einer unvollständigen Geschichte zu entlassen, zieht aber das Spiel nach so einer guten Vorarbeit gerade auf seinem Höhepunkt extrem herunter.
Silberstreif
The Night of the Rabbit ließ mich seinerzeit nach dem ersten Spieldurchlauf mit gemischten Gefühlen und unbefriedigt zurück. Dennoch kam ich über die Jahre immer mal wieder zum Adventure zurück, einfach um mich in den Klängen des Soundtracks, der tollen Atmosphäre und den liebenswerten Charakteren Mauswalds und der schönen Grafik zu verlieren und wurde dem misslungenen Ende gegenüber versöhnlicher. Man gewinnt das Spiel lieb, wenn man sich auf seine Stärken einlässt. Und ich habe es seitdem auch sehr bedauert, dass die Veröffentlichung für Daedalic wohl ein wirtschaftlicher Misserfolg war und deshalb auch nie ein Nachfolger erschien, obwohl die Welt Potenzial für weitere Geschichten geboten hätte.
Das dachten sich wohl auch Matthias Kempke und die Hörspiel-Macher von Holysoft, die Night of the Rabbit neben anderen Daedalic Klassikern für ihre “Videospielhelden”-Hörspielreihe adaptieren und nicht nur die als Monolog nachgeschobene Vorgeschichte des Spiels endlich würdig inszenierten, sondern auch noch eine Fortsetzung der Geschichte um den Marquis de Hoto und Jerry mit den Originalsprechern und Teilen des Soundtracks produzierten, die 2021 mit den Titeln „Der Zauberlehrling des Kaninchens“ und „Wahre Baumläufer“ erschienen.
Ein Familienspiel
Trotz dieses gemischten Gesamteindrucks sei das Spiel allen ans Herz gelegt, die sich im Zauber eines magischen Sommerferien-Abenteuers, einer gemütlichen und schönen Welt verlieren wollen und immer schon auf der Suche nach einem spielbaren Michael Ende-Roman waren. Der Fokus auf die vielen kleinen Nebengeschichten, der vergleichsweise leichte Schwierigkeitsgrad, die kinderfreundliche Inszenierung und die Kombination mit den Hörspielen macht The Night of the Rabbit zudem zu einer Erfahrung, die man auch seinen Kinder bedenkenlos zugänglich machen oder mit ihnen zusammen erleben kann.