Die Nibelungensage ist ein deutscher Nationalepos, dessen Ursprünge bis zu den nordischen Mythen zurückreichen, die in der Edda niedergeschrieben wurden. Aus diesem Stoff formten mehrere Dichter im 13. Jahrhundert das berühmte Nibelungenlied. Die Sage wurde im Lauf der Zeit stets neu erzählt und verändert und auch nach der Wiederentdeckung im 18. Jahrhundert kam es zu immer neuen Interpretationen wie dem Theaterstück von Hebbels oder dem Opernzyklus von Wagner.
Die Nibelungen im Film – Fritz Lang und Harald Reinl
Warum erzähle ich das? Wir merken, dass es für einen Film unsinnig ist, die Geschichte der Nibelungen eins zu eins kopieren zu wollen. Die eigentliche Frage, die wir uns stellen müssen, ist, ob die Adaption dem Stoff gerecht wird. Der berühmtesten Verfilmung, dem monumentalen Stummfilm von Fritz Lang 1924, ist dies gelungen.
Obwohl allseits bekannt, haben ihn die wenigsten gesehen – und das trotz der vielen Lobgesänge, die von der Kritik auf dieses Werk angestimmt wurden. Einen weiteren braucht es daher wirklich nicht. Stattdessen möchte ich eine Lanze für die Verfilmung von Harald Reinl aus den 60er Jahren brechen. Denn obwohl es sich um eine kostspielige und aufwändige Produktion handelt, stand sie immer im Schatten des großen Bruders und geriet letztlich in Vergessenheit.
Ja, Reinls Umsetzung hat Schwächen. Der Pappmaché-Drache bringt uns heute eher zum Schmunzeln als zum Zittern und gerade der Anfang ist hölzern und steif. Aber einen Vergleich mit anderen Fantasyfilmen braucht er nicht zu scheuen. Daneben gelingt es Reinl, Spannung aufzubauen und eigene Akzente zu setzen. Ist Langs Version maßgeblich vom Geist der 20er Jahre geprägt, so ist Reinls-Fassung, was die Kostüme und Gestaltung anbelangt, ein Kind der 60er. Dabei springt ins Auge, wie zart und feminin die Frauen aussehen. Auch Brunhild ist keine breitschultrige Walküre mehr, sondern sie bezieht ihre Kraft aus einem magischen Artefakt.
Reinls Adaption – Schwacher Siegfried, Starker Hagen
Unser Frauenschwarm Siegfried (gespielt von Uwe Beyer) ist hingegen ein naiver Muskelprotz, dem es an Anmut gänzlich fehlt. In seinem Auftreten wirkt er wie ein massiger Knecht, nicht wie ein edler Ritter. Soll hier also Siegfried dekonstruiert werden? Nicht ganz. Tatsächlich steckt der Ansatz eines einfältigen Siegfrieds bereits im Nibelungenlied. Einerseits ist er der makellose Held, der beinahe unbesiegbar ist und dem alles, was er anpackt, gelingt. Andererseits siegt er allein durch seine körperliche Kraft, seinen Mut und sein Geschick – nie durch seinen Verstand.
Reinl nutzt dies, um den Fokus bewusst zu verschieben: Mit einem plumpen Siegfried schrumpft das Verbrechen Hagen von Tronjes. Er tötet nicht den übermenschlichen Helden, sondern einen naiven Hitzkopf. Die Darstellung des düsteren Hagens (gespielt von Wischnewski) ist eine Stärke des Films. Hagen ist kein kleingeistiger Egoist, sondern ein heidnischer Ritter, der das Beste für Burgund möchte. Er ist stolz, stark und erbarmungslos. Ein Bösewicht von Format!
Zur selben Zeit wie der Kinofilm erschien auch Joachim Fernaus Buch „Disteln für Hagen“. Für Fernau ist Hagen nicht nur eine Person, sondern steht symbolisch für die Verkörperung einer Idee: die Idee von Deutschland. In dieser Interpretation wird Deutschland zum dunklen Hagen, der ein Verbrechen beging. Das wirft Fragen auf: Können wir unter diesen Umständen noch treu sein? Wäre es nicht viel einfacher, die Last abzustreifen und Hagen sich selbst zu überlassen? Uns zu retten, auf seine Kosten?
Die vielen Facetten König Gunthers
Mit dieser Frage muss sich König Gunther auseinandersetzen. Er ist eine weitere Figur, die in beiden Verfilmungen gänzlich anders dargestellt wird. Besitzt er bei Lang zwar ein markantes Gesicht, bleibt aber passiv, voller Verzweiflung und Selbstmitleid, ist es bei Reinl umgekehrt. Er sieht wenig majestätisch aus, aber sein Charakter ist äußerst vielschichtig: Milde, List, Gier und Verantwortung wechseln sich ab.
Gerade diese verschiedenen Facetten wecken das Interesse. Gunther ist ein angenehmer Chef, der sich mit seinen Untergebenen abstimmt und Probleme durch Dialoge löst. Auf diese Weise gelingt ihm geschickt, Siegfried für seine Zwecke einzuspannen. Spiritualität bedeutet ihm wenig; er versucht stets, die Vor- und Nachteile seiner Handlungen abzuwägen. Das macht ihn aber nicht zu einem Jammerlappen. Im Lauf des Films zeigt sich, dass er Rückgrat besitzt und auch für schwere Entscheidungen konsequent einsteht.
Eine alternative und gelungene Interpretation
Zwischen Lang und Reinl ist eine eindeutige Verschiebung der Perspektive zu erkennen. Während Lang auf einen heroischen Siegfried setzt und im zweiten Teil die Geschichte aus der Perspektive Kriemhilds schildert, bleibt die Fassung von Reinl, wie im ursprünglichen Lied, bei den Burgundern. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg musste das Bild des edlen und starken Siegfried, dem der Dolch in den Rücken gestoßen wurde und der durch Kriemhild und ihren Pakt mit der Barbarei schließlich doch noch gerächt wird, einleuchtend sein.
Diese Sicht hat sich in den 60er Jahren grundsätzlich gewandelt. Deutschland wird nun als ein Land wahrgenommen, das sich mit ganzer Kraft gegen sein Schicksal gestemmt und doch immer wieder verloren hatte. Vom immer siegenden Siegfried, dem alles mit Leichtigkeit gelingt, ist nichts mehr zu spüren. Stattdessen findet sich eine neue Identifikation mit den Burgundern und ihrer Treue zu Hagen.
Reinls Umsetzung liefert uns damit eine bereichernde zweite Perspektive auf die Nibelungensage. Mag sie auch weniger eindrucksvoll und künstlerisch sein, so lädt sie doch eher ein, die Nibelungen kennenzulernen, da sie nicht mit dem eigenwilligen Stil der 20er Jahre behaftet ist. Und auch wenn sie zu Beginn mit der Einführung Siegfrieds noch etwas holpert, steigt gerade im zweiten Film die Spannung merklich an und gipfelt in einem überzeugenden Finale. Daneben punktet die Adaption mit einer eingängigen Titelmelodie und eindrucksvollen Landschaftsaufnahmen Islands. Also lasst euch nicht von dem hässlichen Cover auf imdb täuschen, ein Blick lohnt sich!