Wer behauptet, die Corona-Zeit sei nur schlecht gewesen, dem werde ich stets entgegnen: Nicht ganz – immerhin brachte sie Andrej Pfeiffer-Perkuhn aus Langeweile auf die Idee, Webvideoproduzent zu werden! Andrejs YouTube-Kanal „Geschichtsfenster„, der sich rund um das Mittelalter dreht, galt in unserem Lager lange als Geheimtipp. Jetzt, nach seinem knapp dreijährigen Bestehen, hat er die 100.000 Abonnenten geknackt. Zeit, ihm einen kleinen Artikel zu widmen.
Andrej ist hauptberuflich Organisator für Mittelalter-Events und Living-History-Darsteller. Letzteres bedeutet, sich möglichst originalgetreu in die Schale eines Bewohners des Mittelalters zu werfen und, unter Zuhilfenahme von allerhand Repliken mittelalterlicher Gegenstände, dem geneigten Zuschauer Wissen über besagte Epoche zu vermitteln. Zu seinen Rollen zählen Ritter, Patrizier, Buchhändler und Gelehrter.
Seine Karriere als YouTuber begann auf dem Kanal „Kaptorga – Visual History“ mit dem Video „Mathematik im Spätmittelalter“.
Darauf folgten vierzehn weitere Kaptorga-Videos unter dem Titel „Geschichtsnerdismus mit Andrej“.
Im Sommer 2021 lud er dann das erste Video auf seinem eigenen Kanal hoch, in welchem er sich vorstellt und betont, dass dies ja eigentlich nur sein kleiner, bescheidener Mini-Kanal sei, der wohl nie an die Größe und die Qualität von „Kaptorga“ heranreichen könne und daher auch nie Werbung schalten würde. Diese Aussage ist schlecht gealtert: Kaptorga, mit seinen 39.400 Abonnenten, wurde längst abgehängt, und an Werbepartnern mangelt es Geschichtsfenster auch nicht.
Aber warum ist Andrej in unserem Lager denn nun so beliebt? Ist er etwa rechts?
Das wage ich zu bezweifeln. Vielmehr begeistert er uns schlicht durch sein didaktisches Talent und die schiere Qualität seiner Inhalte: Ohne Budget und ohne Schnitt schafft er es, einfach, indem er vor der Kamera sitzt und erzählt, anspruchsvolleren, interessanteren und vor allem wahreren Video-Content über das Mittelalter zu produzieren, als man ihn je von einer der großen Medienanstalten der Bundesrepublik zu sehen bekommen hat. Zum anderen vermag er dem Zuseher auch ein befreiendes Gefühl der Katharsis zu verschaffen, denn eine seiner Hauptbeschäftigungen ist, die infamen Falschbehauptungen, die von den Mainstreammedien über das Mittelalter verbreitet werden, bloßzulegen und richtigzustellen.
Das niederträchtige Mittelalterbild der BRD
Diese köstlichen roten Pillen, die Andrej freimütig verteilt, um uns gegen die Verdummung durch die großen Sendeanstalten zu impfen, sind wohl der Hauptsuchtfaktor, welcher die Zuschauer immer wieder auf seinen Kanal zurückkehren lässt. Dafür spricht auch, dass seine „Reactions“ zu seinen beliebtesten Formaten gehören: Hierbei lässt er eine der besagten Dokus abspielen, die uns das Mittelalter als dunklen, schlammigen, verseuchten Moloch zeigen, der von ungebildeten, gewaltaffinen und übellaunigen Menschen bevölkert wird, und kommentiert sie an geeigneten Stellen. Womit er diese Dokus nicht nur um 100.000 % verbessert, sondern dem Zuseher auch eine Art spiritueller Reinigung verschafft.
Und ja, es ist so: Die veröffentlichte Meinung über das Mittelalter ist in der Bundesrepublik derart negativ und niederträchtig, dass man, wie Andrej es selbst einmal bemerkte, wahrscheinlich wegen Volksverhetzung strafrechtlich verfolgt werden würde, wenn man Ähnliches über ein heute existierendes Land behauptete.
Hier einige der typischen Verleumdungen, die von unseren Systemmedien gebetsmühlenartig unter die Leute gebracht werden. Im Mittelalter…
- habe es so gut wie keinen technischen Fortschritt gegeben, im Gegensatz zur Antike und zur Neuzeit
- habe es kein sauberes Trinkwasser gegeben, weshalb die Menschen statt Wasser Bier getrunken hätten und deshalb permanent betrunken gewesen seien
- habe es ständig Krieg gegeben
- habe es keine Wissenschaft gegeben und die Kirche habe Wissen aktiv unterdrückt
- hätten die Menschen ihre Fäkalien einfach auf die Straße gekippt, weswegen sie spezielle Schuhe zum Waten durch die Fäkalienschicht gebraucht hätten
- seien die Menschen unreinlich gewesen, weswegen auch immer wieder die Pest ausgebrochen sei
Das sind allesamt Lügen, die man aber nicht müde wird, dem Pöbel großflächig unter die Nase zu reiben. Nicht nur in den minderwertigen Dokus der bekannten Medienanstalten, sondern wann immer es um das Mittelalter geht, sei es in Schulbüchern oder historischen Spielfilmen, in welchen stets der desaturierende „Mittelalterfilter“ benutzt wird, denn selbstverständlich war sogar das Wetter im Mittelalter schlecht.
Wenn man Andrej nun aber fragt, wie er sich dieses extrem negative offizielle Mittelalterbild erkläre, so ist seine Antwort darauf ziemlich enttäuschend. Auf eine entsprechende Zuschauerfrage in den Kommentaren antwortete er mit einem Zirkelschluss. Sinngemäß sagte er: Das läge daran, weil die TV-Dokus halt immer dieses negative Bild vermitteln würden – obwohl die Akademiker ganz anderer Meinung wären. Und auf die Nachfrage, warum sie das tun würden, antwortete er:
„Gruseliges verkauft sich einfach gut. Würde ich Filme über Folter und Hinrichtungsarten machen, hätte ich deutlich höhere Abozahlen. Leider.“
Was natürlich die Frage offenlässt, warum andere Epochen, wie das alte Rom oder die Zeit der Aufklärung, im offiziellen Geschichtsnarrativ so viel positiver dargestellt werden als das Mittelalter, obwohl sogar viele der schlimmen Dinge, die dem Mittelalter angelastet werden, tatsächlich eher in der Neuzeit zu verorten sind, wie z. B. die Hexenverfolgung.
Die Macht des Narrativs
Andrej ist in seiner sympathischen und gutgläubigen Art leider vollkommen unwillens, den Umstand, warum seine Lieblingsepoche von den einflussreichsten meinungsbildenden Institutionen des Landes immer wieder durch den Schmutz gezogen wird, aus einer größeren historischen und elitentheoretischen Perspektive zu beleuchten. Stattdessen hält er deren Mittelalterverleumdung einfach nur für einen Irrtum; für einen Fehler, der sich halt irgendwie in die Geschichtsauffassung eingeschlichen hat. Lieber Andrej, könnte es eventuell sein, dass das „finstere Mittelalter“ kein bug unseres Systems ist, sondern vielmehr … ein feature? Hast Du noch niemals dieses Zitat gehört??
Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Gegenwart. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. – George Orwell,1984
Was Andrej nicht bedenkt, ist, dass ein bestimmtes Geschichtsnarrativ einfach zu den Grundpfeilern der Selbstlegitimation einer jeden Herrschaft gehört. Steinmeiers „Wir leben im besten Deutschland, das es jemals gegeben hat“ bringt es auf den Punkt: Unser jetziges System ist als das Beste anzusehen, die vorherigen als minderwertig.
Und Steinmeier wird auch nicht das erste Staatsoberhaupt gewesen sein, das diesen Claim gemacht hat. Ähnliche Aussagen wird man im Kaiserreich, der Weimarer Republik, dem Dritten Reich, der DDR und überhaupt allen bisherigen Herrschaftsformen finden, die selbstverständlich immer bestrebt waren, sich durch die Abwertung vorheriger, überwundener Systeme selbst zu legitimieren, um somit reaktionäre Bestrebungen schon im Keim zu ersticken. Es liegt eine enorme Macht darin, das Geschichtsbild und somit das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft zu beeinflussen.
Wie stark dabei eine vergangene Epoche abgewertet wird, hängt natürlich davon ab, wie antithetisch sie zur jetzigen ist. Die Antike, das alte Rom, die Renaissance, die französische Revolution und die Weimarer Republik – das sind alles harmlose Epochen, die nicht an den Grundfesten unseres Staates rütteln und keinerlei Abwehrreaktionen des bundesrepublikanischen Immunsystems hervorrufen. Selbst der Kommunismus mit seinen hundert Millionen politischen Morden ist nichts, was an den Pranger zu stellen die BRD sich besonders große Mühe geben würde – zu nahe, zu kompatibel ist das humanistische Wertefundament des Kommunismus mit dem unsrigen.
Aaaber das Mittelalter. Irgendwas hat diese Epoche an sich, was Systemlinge wie Mirko Drotschmann dazu veranlasst, sie mit schlammbespritzten Häusern zu illustrieren, auf denen die Ratten herumlaufen. Als sei sie etwas Ekelhaftes, an dem man sich anstecken könne. Komisch, oder?
Nein. Denn das Mittelalter rüttelt in der Tat an den Grundfesten der Bundesrepublik: Das, was seinen Reiz ausmacht, sind alles Dinge, die die BRD in ihrem Selbstverständnis längst als gestrig, schlecht und überflüssig abgestempelt und auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen hat: große Familien, Verbundenheit mit der Scholle, Beständigkeit, Tradition, Ritterlichkeit, Gemeinschaft, Kleinteiligkeit, Weiblichkeit und Männlichkeit, eine starke Spiritualität und sinnhafte Religiosität, Stände und klare Hierarchien, und nicht zuletzt schöne, liebenswerte Architektur.
All das sind Dinge, von denen Andrej träumt. Und die ihm die BRD vorenthält.
Der Unterschied zwischen Andrej und uns ist: Ihm genügt es, sich damit zu behelfen, Mittelalter zu spielen.
Wir aber wollen diese Dinge wirklich.