Der Trailer des neuen Nibelungenfilms sah danach aus, als würde eine weitere deutsch-europäische Produktion in den Sand gesetzt. Die Komposition war ein totales nichtssagendes Chaos, versprach das deutsche Nationalepos eher zu einem billigen Fantasy-Streifen herabzuwürdigen und ein wahres Verbrechen ist die Musik, mit der man das ganze unterlegt hatte. Wer auch immer dafür verantwortlich war, sollte dringend gefeuert werden, denn wohl kaum etwas dürfte dem Film an den Kinokassen mehr geschadet haben, als die eigene Werbung.
Da das Wort „Nibelungen“ für uns Deutsche immer noch eine besondere Magie besitzt, dürfte er dennoch Publikum ins Kino und später vor die Bildschirme ziehen. Zumindest mir ging es so. Ich wartete schon lange auf eine gute zeitgenössische Neuverfilmung des Stoffes, auch wenn wir nach wie vor Fritz Langs Kunstfilm und die als Unterhaltungsfilm gestaltete Version von Harald Reinl aus den 60ern empfehlen können. Grund genug, mich ins Kino zu wagen.
Was erwartet euch nun also bei Hagen – Im Tal der Nibelungen? Der von den Regisseuren Cyrill Boss und Philipp Stennert gedrehte Film ist eine Umsetzung der ersten Hälfte der Nibelungengeschichte bis zum Tode Siegfrieds und Kriemhilds Racheschwur. Das Drehbuch basiert dabei auf dem Hagen-Roman von Fantasy-Autor Wolfgang Hohlbein. Wir haben ein Ensemble mehrheitlich deutscher Schauspieler und einiger Mimen aus europäischen Nachbarländern. Hauptdrehort war Tschechien (mit Ausflügen und Landschaftsaufnahmen aus Island), dennoch wurde der Film mit deutschen Steuermitteln durch die Filmförderung bezuschusst und gehört mit einem Budget von über 15 Millionen Euro zu den teuersten Filmprojekten Deutschlands. Neben der Veröffentlichung als Kinofilm soll es wohl auch als mehrteilige Serie bei RTL+ erscheinen.
Trotz des hohen Budgets stand zu befürchten, dass es in der gewohnten deutschen Mittelmäßigkeit versinkt. Tatsächlich ist Hagen kein gewaltiges, hollywoodeskes Epos. Die Macher fokussieren sich auf wenige ausgewählte Schauplätze, setzen neben Szenen bei Hofe auf Drehorte im Wald oder in der Natur und blasen den Film nicht mit Effektfeuerwerken und Szenen aus dem Computer oder ausgedehnten Massenschlachten auf und das tut dem ganzen Werk erstaunlich gut. Die Regisseure wissen, was sie können und übernehmen sich nicht. Ausstattung und Kostüme sind gut.
Täglich grüßt der Mittelalterfilter
Nur in den Szenen auf Island wird es wilder, hier greift man auch auf computergenerierte Inhalte zurück, lässt eine Bergfestung vor einem Vulkan inmitten der isländischen Wildnis entstehen, die Kostüme und Rüstungen werden phantastischer, wohl um zu zeigen, dass man sich hier an einem gänzlich archaischen und fremdartigen Ort der alten Götter befindet. Hier bewiesen die Macher kein gutes Händchen: Die erhabenen Walküren wirken mit ihrer Kriegsbemalung stellenweise wie ein schwarzafrikanischer Stamm. Generell wirkt das Kostümdesign, als sei es direkt aus dem Spiel Hellblade: Senuas Sacrifice abgekupfert worden, etwas, was sich noch dadurch verdichtet, dass die einzig andere namentlich benannte Valkyre neben Brunhild Senua heißt. Wenn dies eine Referenz an das Videospiel sein sollte, hätte man das besser gelassen.
Optisch ist der Film sehr düster gehalten. Statt der Märchenfilm-Ästhetik der Reinl Adaption orientiert es sich am Ernst des zeitgenössischen Fantasy-Films (Game of Thrones, Witcher, The Northman) und kommt deshalb leider nicht ohne den entsättigenden, blaustichigen – längst als Mittelalterfilter verballhornten – Farbfiltereffekt aus. Es gibt wenige Szenen im Film bei natürlichem Licht, die zeigen, wie viel besser alles hätte aussehen können, wenn man auf diese unselige Marotte verzichtet hätte.
Progressive Besetzung nur am Rande
Wo wir von modernen Marotten reden, kann Entwarnung bezüglich progressiver Durchseuchung gegeben werden.
Diversität ist kaum im Film. Wir haben eine weibliche Kriegerin in Hagens sonst rein männlichem Gefolge. Was bei den isländischen Walküren in Ordnung wäre, ist hier völlig deplatziert. Zum Glück hat sie nicht viel Spielzeit und sagt kaum zwei Sätze. Das andere sind die namen- und sprechrollenlosen Gefährten aus Siegfrieds Gefolge, unter denen sich auch ein Schwarzer und ein Asiate befinden. Die spielen in der Geschichte ebenfalls keine Rolle und sind kaum gezeigtes Statistenbeiwerk, aber vermutlich notwendig, um das Geld der Filmförderung einstreichen zu können
Die Hauptbesetzung hingegen ist passabel gewählt. Besonders die von der Dänin Rosalinde Mynster gespielte Brunhild überzeugt als herbe Schönheit, der man sowohl die schöne Frau, die erhabene Walküre und die fähige Kämpferin abkauft. Nur Kriemhild Schauspielerin Lilja van der Zwaag mit ihrem reservierten Gesicht und nassforschen Blick (das mag subjektiv sein) passt nicht zum Bild der jungen, unschuldigen und wunderschönen Burgundenprinzessin. Die Besetzung besteht nicht aus international bekannten Stars, die Schauspieler haben sich ihre Meriten aber in europäischen (Fernseh-)Filmen und Serien verdient und spielen gut. Das führt uns zu den zwei Männern, um die sich die Handlung des Films hauptsächlich dreht.
Hagen der Staatsmann
Ein Reiz, den Adaptionen klassischer Stoffe ausmachen, ist die Art und Weise, wie deren Charaktere interpretiert werden. Sagenhelden sind nicht in der gleichen Art und Weise charakterlich ausgeformt und festgelegt, wie moderne Romancharaktere und fordern Künstler seit je dazu heraus, eigene Deutungen und Motivationen in sie hineinzulegen.
Bereits der Titel macht klar, dass Hagen von Tronje (verkörpert vom Niederländer Gijs Naber), die Hauptfigur ist und die Geschichte primär aus seiner Perspektive erzählt wird. Hierbei folgt auch der neue Film dem klassischen Fokus hagenlastiger Interpretationen und stellt die Themen Loyalität, Treue, Staatsräson und Staatsdienertum in den Vordergrund. Allerdings wird das klassische Konzept deutlich variiert, in dem Hagen mehr persönliche und emotionale Handlungsmotivationen gegeben werden. So geht es um Burgund, Familie und persönliche Liebe und die möglichen Interessenkonflikte und den Verzicht, den das mit sich bringt. Statt im Beziehungsdoppel zwischen Gunther/ Brunhild und Siegfried / Kriemhild mit emotionaler Distanz als Gefolgsmann des Königs außen vor zu stehen, ist er direkt involviert und muss seine persönlichen Wünsche gegen sein Pflicht- und Ehrgefühl abwägen.
Anders als bspw. in den Interpretationen von Reinl oder Lang ist Hagen hier kein düsterer Ränkeschmied, der aktiv den Konflikt mit Siegfried sucht, sondern agiert erstaunlich passiv, vorsichtig und versöhnlich. Er handelt so, wie man es von jemandem erwarten würde, der das Schicksal hunderter Krieger in Händen hält und den Fortbestand des Königreichs sichern muss und sich deshalb zu eiserner Disziplin zwingt. Er kann sich deshalb auch nicht leichtsinnig in unabwägbare Aktionen stürzen, ist aber entschlossen, das Nötige zu tun, wenn die Würfel gefallen sind. Ein nette Variation der Interpretationslinie, die Hagen als den pragmatischen Staatsmann liest, auf dessen Rücken der Burgundenhof ruht.
Siegfried der Rockstar
Ganz anders tritt Siegfried auf. In älteren Interpretationen ist er häufig ein strahlender, wohlmeinender, zum Teil naiver Held. Gerade Reinls Nibelungenverfilmung folgt stark dieser Linie. Die Konflikte am Burgundenhof entstehen dann nicht durch sein aktives Zutun, sondern aus der Dynamik des Hoflebens und der streitenden Ehefrauen heraus oder werden dadurch geweckt, dass er den Neid der Burgunder auf sich und den Schatzhort zieht, weshalb sein Tod stets den Ruch des feigen, eigennützigen und unprovozierten Mordes mit sich bringt. Schon andere hagenlastigere Lesarten haben versucht, dieses Bild zu differenzieren und den Tod des Helden als tragische Notwendigkeit zum Wohle der Staatsräson zu verstehen.
Der von Jannis Niewöhner (“Je suis Karl”!) gespielte Siegfried ist in der Neuverfilmung noch immer ein Held, aber ein klassischer Saga-Held: ein Draufgänger, den es nach immer neuen Abenteuern lockt, nach immer neuen Möglichkeiten sich zu beweisen. Der hitzköpfig ist und gerne den Streit und das Kräftemessen mit anderen sucht und nicht davor zurückschreckt, auch aus Launen heraus zu handeln, sofern sie ihm Ruhm und einen Nervenkitzel versprechen. Er ist charismatisch, löst Probleme aber eher mit dem Schwert als mit Diplomatie. Das sind beeindruckende Qualitäten für einen Heros, allerdings ist Siegfried dadurch auch unstet und unzuverlässig.
Sein Streben nach Ungebundenheit, Freiheit und Abenteuern sind Gift für alles, was nach Beständigkeit verlangt: Treue, Liebe, Ehe, das hierarchische Leben am Hof und die Verantwortung des Königtums. Schon sein erster Auftritt ist deshalb sehr nah am Nibelungenlied: Worms ist nur eine weitere Station, um sich seine eigene Größe zu beweisen. Kaum dort angekommen, fordert er aus einer Laune heraus den König zum Zweikampf um seine Krone und behandelt seine Gastgeber zu dem außerordentlich respektlos. Kriemhild ist zunächst nur eine weitere Gespielin. Hier wird ein Ton gesetzt, der den ‚höfischen‘ Siegfried des Nibelungenliedes dann sehr schnell gegen eine sehr viel archaischere Version austauscht, sowohl optisch als auch von seinem Verhalten.
Siegfried und Hagen – Ein Wertekonflikt
Das ist eine Entscheidung, die nicht jedem gefallen muss. Gerade Fans der Siegfried-Figur werden sicher schlucken müssen, ihren strahlenden Ritter zu einem draufgängerischen Wüstling entzaubert zu sehen, allerdings steckt Absicht hinter dieser Entscheidung. Die Fantasy-Version einer Fliegerjacke (eine der fragwürdigeren Kostümentscheidungen), das großspurig fast schon barbarische Verhalten, der Alkoholkonsum und das Inhalieren halluzinogener Kräuter inszenieren Siegfried als einen archaisch-mythologischen Rockstar: Drachentöter, Königssohn, meisterlicher Krieger, Frauenheld. Eine Reizfigur, die vom Burgunden-Volk einerseits gefeiert und von den Kriegern bejubelt wird, die andererseits die gewohnte Ordnung, Disziplin und Hierarchie am Hofe einer Zerreißprobe aussetzt, wie es subversive Musik in unserer Gegenwart tat.
Dabei ist Siegfried nie ein völliger Unsympath, auch verletzliche Seiten werden angedeutet, während der stoische Hagen häufig die Frage aufwirft, ob er nicht besser selbst etwas draufgängerischer und aktiver sein sollte, vor allem hinsichtlich der eigenen Gefühle. Der Film ist daher um den Gegensatz zwischen den Figuren Hagen und Siegfried und die von ihnen repräsentierten Wertesysteme geflochten: Hartes Training vs. natürliches Talent , pflichtbewusster Staatsdiener vs. draufgängerischer Abenteurer , eheliche Treue vs. freie Liebe , Disziplin vs. Spaß , Konservatismus vs. Spontanität , Ordnung und Hierarchie vs. Rebellentum, aber auch Christentum und höfisches Leben vs. Heidentum und Heldentum.
Tiefe des Stoffes nicht ausgeschöpft
Letzteres ist kein Novum, nur inszenierte man klassischerweise Siegfried als christlichen Ritter und sah den alten, weisen Hagen als einen Mann der alten Götter, der in Reinls Verfilmung sogar odinhafte Züge annimmt. Hier ist es erfrischender und gewissermaßen auch passenderweise umgekehrt, sodass der Held, der sich mit Drachen und Schwarzelben schlägt und einem eigenen größeren Sagenkosmos entstammt, derjenige ist, der über die „Alten Wesen“ am besten Bescheid weiß und mit ihnen Umgang pflegt, während Hagen und die Burgunden den alten Zaubergestalten misstrauen. Hier wäre Potenzial für einen spannenden Konflikt gewesen.
Allerdings offenbaren sich daran auch die Schwächen von Boss‘ und Stenerts Version der Nibelungengeschichte. Hagen – Im Tal der Nibelungen ist ein gut gemachter und unterhaltsamer Fantasy-Film, geht aber bei vielen der Themen, die er anreißt, kaum in die Tiefe, sondern belässt es bei Andeutungen, die der vordergründigen Dramatik und der Atmosphäre dienen. Das schadet dem Entspinnen der Geschichte nicht, aber der Film ist hier intellektuell deutlich weniger ambitioniert als die berühmte Verfilmung von Fritz Lang. Allerdings wird trotz gefälliger Action-Einlagen vermieden, daraus ein plumpes Hollywood-Spektakel zu machen, das nur vom Schauwert von Schlachten und Kämpfen lebt. Den Charakteren, den Interaktionen miteinander und den Konflikten zwischen ihnen wird viel Zeit gegeben, sich zu entfalten.
Eine unterhaltsame Neuverfilmung
Hagen – Im Tal der Nibelungen ist eine beachtliche deutsche Kino- und Fantasyproduktion, unterhaltsam und gut anzuschauen. Sie wird zwar von einigen modernen stilistischen Sünden geplagt, verzichtet aber weitestgehend auf progressive Zumutungen. Der Zuschauer bekommt eine solide, auf Hagen fokussierte Adaption des Nibelungenstoffes geboten, die sich auf die Charaktere und ihre Beziehungen konzentriert. Dabei lebt er von der charakterlichen Unterschiedlichkeit und Dynamik zwischen ihm und Siegfried und weiß die alte Geschichte spannend neu zu interpretieren, verzichtet aber auf Komplexität und Tiefgang zugunsten des Filmerlebnisses.
Er reiht sich damit als solide Verfilmung des Nibelungenstoffes neben der Reinl-Verfilmung aus den 60ern ein. Also seid nicht so verbissen wie Carsten und gebt auch einmal neuen Filmen eine Chance.
Vor allem Hagen-Fans bekommen einen guten Nibelungenfilm, der ihre Lieblingsfigur ins Zentrum stellt und Fantasy-Fans können sich über einen soliden phantastischen Heldenfilm aus Deutschland freuen, der auch ohne Vorwissen funktioniert. Diejenigen, deren Lieblingsfigur Siegfried ist und den sie als strahlenden Ritter sehen wollen, sollten aber lieber einen großen Bogen um den Film machen und bei den Klassikern bleiben.