Es ist morgens um acht, du schlängelst dich durch den Berufsverkehr oder nimmst die Zumutung öffentlicher Verkehrsmittel auf dich. An dir zieht die austauschbare Kulisse städtischen Betons, von Wohnsilos, Bürotürmen und Geschäftsgebäuden vorbei. Du tauschst dann die abgasgeschwängerte Straßenluft gegen den abgestandenen Aether deines Großraumbüros. Das Hintergrundrauschen des Verkehrs weicht dem mechanischen Klicken und Klacken, deiner Kollegen an ihren Rechnern und dem regelmäßigen Klingeln des Telefons, das Kunden oder Zulieferer ankündigt.
Du hast einen sicheren 9-to-5-Job, ein gutes Auskommen, zumindest reicht es, um dir eine kleine Wohnung und das Essen vom Lieferdienst und einen Netflix-Account zu finanzieren, aber dennoch ist da dieses untrügliche, nagende Gefühl, dass du eigentlich nur ein anonymes, völlig ersetzbares Rädchen in einem durch und durch rationalisierten Apparat deines global-agierenden Arbeitgebers bist… und das jeden Tag ein weiteres Stückchen von dir, der sich ausbreitenden seelischen Leere zum Opfer fällt.
Klingt ein wenig nach Fight Club, oder? Also rein in den Anarcho-Terrorismus? Nein!
Raus ins Grüne!
Denn bei einem Griff in die Schreibtischschublade förderst du einen Brief deines verstorbenen Großvaters zu Tage, der dir auf dem Totenbett seinen alten Bauernhof vermacht hat. Ein Ausweg aus grauer Städte Mauern in die Natur hat sich dir eröffnet. Damit beginnt das Spiel Stardew Valley.
Wandern zwischen Feldern, ein Spaziergang im Wald, Gemüse aus dem eigenen Garten, Ruhe, ein Haus im Grünen, Feiern mit den Nachbarn und das Leben in einer gesunden und organischen Gemeinschaft… Das Leben auf dem Land ist heimlicher romantischer Wunschtraum vieler Rechter und wer aktuell noch darauf hinarbeitet, sich dieses Lebensglück zu erschließen oder angesichts steigender Baukosten auf die passende Erbschaft wartet, kann mit Stardew Valley zumindest einen spielerischen Ausflug in diese Fantasie wagen.
Ein Indie-Meisterwerk
Das von Eric Barone (Entwicklername: ConcernedApe) im Alleingang über Jahre und mit großen persönlichen und mentalen Mühen entwickelte (allein das wäre schon eine spannende Geschichte für sich) und im Jahr 2016 final veröffentlichte Spiel ist eine Farming- und Lebenssimulation, die sich am Spielprinzip des Konsolen-Klassikers Harvest Moon (später Story of Seasons) orientiert und es in schöner 2D-Pixeloptik für den PC adaptiert. Seit Release wird es regelmäßig mit weiteren Inhaltsupdates versorgt und kann sogar für das soziale Erlebnis im Multiplayer gespielt werden.
Stardew Valley entführt uns als jungen Aussteiger in das titelgebende Sternentautal, eine ländliche Region mit einer gleichnamigen Kleinstadt, die zwischen den Bergen und dem Meer liegt, mit Wäldern und kleineren Gehöften. Zu denen gehört auch der Hof unseres Großvaters, der nach Jahren des Leerstandes ziemlich runtergekommen ist und den wir mit harter Arbeit und ein wenig Geschäftssinn wieder herrichten.
Ein Aussteigerhof am Rande der Welt
Wie mit aller Romantik ist das Farmleben nicht realistisch. Es hat wenig mit dem Leben realer Landwirte zu tun und fokussiert sich deshalb auch nicht auf Landwirtschaft als Vollzeitarbeit oder Einkommensquelle. Wer das in einem Spiel sucht, der sollte lieber zum Landwirtschaftssimulator greifen. Betrachtet man den Bauernhof in Stardew Valley mehr als einen Selbstversorger- und Aussteigerhof, kommt man der Wahrheit näher. Man produziert für sich selbst, die lokale Gemeinschaft und veredelt Produkte (zum Beispiel zu Eingemachtem) und macht am Ende mit dem Verkauf eher einen Zuverdienst, um sich damit kleine Annehmlichkeiten zu finanzieren, statt ein großes Farm-Imperium mit 1000en Morgen Land aufzubauen.
Die Farmarbeit ist deshalb größtenteils Handarbeit, Geräte und Verbesserungen ermöglichen es, einige der lästigeren Arbeiten zu automatisieren oder schneller zu erledigen, aber einen Sprung zu einer wirklichen Vollautomatisierung und Industrialisierung machen wir nie und das ist gut so. Auch wenn es im Internet Layouts und Pläne für eine möglichst optimierte Hofwirtschaft gibt (Monokulturen hochpreisiger Pflanzen inklusive) und manche Spieler eine Herausforderung darin sehen, soviel Gewinn aus dem Hof zu quetschen wie möglich, ist es ganz offensichtlich nicht der Fokus.
Mehr als nur Feldarbeit
Wer es auf diese Weise spielt, verpasst viel von dem Leben und den eigentlichen Abenteuern im Sternentautal. Man gerät zurück in den alten Arbeitstrott, dem man eigentlich entkommen wollte. Stardew Valley verläuft in Tagen und unsere Spielfigur hat täglich nur ein gewisses Limit an Energie (die wir mit Mahlzeiten wieder etwas auffrischen können), die bei jeder Aktion verbraucht wird. Auch die Bewohner folgen ihren Tagesabläufen, die je nach Wochentag und Jahreszeit variieren können. Wir müssen einerseits also unsere Ausdauer im Blick behalten, haben andererseits auch nur begrenzte Zeitfenster, in denen wir bestimmte Dinge tun können. Das zwingt uns dazu, uns selbst Prioritäten zu setzen, was wir tun möchten und die Möglichkeiten sind reichhaltig.
Neben unserem Bauernhof gibt es eine Kleinstadt zu erkunden, mit dessen Bewohnern man sich unterhalten und anfreunden kann, es gibt eine ausgedehnte Natur zu erkunden, von den Bergen und Flüssen, über den Wald bis zum Strand, zudem eine Wüste und Inseln. Wir können fischen, Wildgemüse und Früchte sammeln, uns der örtlichen Abenteurergilde anschließen und Minen und Monsterhöhlen ausheben, in die örtliche Bibliothek gehen oder einfach ein paar ruhige Tage beim Wandern in der virtuellen Natur oder dem örtlichen Kurbad genießen. Dank dieser vielen Beschäftigungen, die uns das üppige und clevere Gamedesign zur Verfügung stellt, ist die bloße Farmarbeit längst nicht mehr das, worauf wir uns fokussieren wollen.
Der Bauernhof ist Arbeit, die wir bald möglichst effizient erledigen wollen, um uns spaßigen Sachen zu widmen und die Welt zu erkunden. So verschiebt Stardew Valley den Fokus organisch vom Arbeitstrott hin zum Abenteuer. Und trotzdem sieht man gerne, wie der Hof und die eigenen Pflanzen wachsen und gedeihen, aber man denkt bald längst nicht mehr über einen möglichst effizienten Acker nach, sondern auch darüber, wie man den eigenen Hof mit Dekoobjekten, Nebengebäuden und der richtigen Mischung aus Bäumen, Zäunen und Beeten in einen schönen Ort zum Leben verwandelt, statt möglichst viele Rüben zu stecken. Herz des Spiels ist nun einmal das Ganze Tal und seine Bewohner und nicht nur unsere einsame Scholle und die Arbeit.
Entspannungsspiel
Als Entspannungsspiel ist es für Spieler geeignet, die nach einem Arbeitstag etwas zum runterkommen suchen und dabei lieber aufbauen als zerstören möchten, auch wenn die Monsterhöhlen mit Action-Kämpfen auch ein wenig Spannung in den Farmalltag bringen. Die vielen interessanten Orte in der Umgebung unseres Hofes machen aber auch die reine Erkundung zu einer wahren Freude, jedes Mal, wenn wir dabei etwas Neues entdecken. Und dabei gibt es auch viele Bewohner kennen zu lernen, die neben den Farmtieren die Welt um nette Interaktionen bereichern.
Nachbarn, die die Welt bedeuten
Zeit also, sich mit der Stadt und unseren Nachbarn zu beschäftigen. Im Vordergrund stehen natürlich die jungen Erwachsenen von Stardew Valley, die für uns nicht nur neue Freunde sind, sondern auch potenzielle Liebschaften. Doch auch hinter all den anderen Bewohnern verbergen sich gut ausgestaltete Charaktere, die ihren eigenen Tagesabläufen folgen, freundlich und meistens sympathisch sind, Vorlieben und Abneigungen haben, aber auch ihre eigenen kleinen Geschichten und Schwernisse mit sich herumtragen, über die wir jedoch erst mehr erfahren, wenn wir sie näher kennenlernen. So ist nicht alles so rosig wie es scheint. Private und soziale Probleme verbergen sich in den Dialogen: Existenzangst, Alkoholismus, PTSD oder das Leben als Alleinerziehende Mutter. Stardew Valley operiert hier erstaunlich nah an der Realität.
Die Stadtbewohner halten trotzdem zusammen und wenn wir uns in ihre Gemeinschaft einfügen, behandeln sie uns bald als einen der Ihren und sind froh, dass wir Leben in Großvaters Hof und damit das Städtchen zurückbringen. Im Jahreszyklus sind deshalb die großen Festtage besondere Ereignisse, wo die Stadt zusammenkommt und mit besonderen Feiern und einer Reihe von Minispielen das normale Spielgeschehen aufbricht und auflockert. Im Frühling wartet zum Beispiel das große Ostereiersuchen auf uns, während im Herbst eine Geisterbahn aufgebaut wird. Wir erleben also deutlich, wie sich das Leben am Zyklus der Jahreszeiten ausrichtet und sich verändert.
Ein Konzern sie zu knechten
Jedoch knirscht es hinter der Idylle ordentlich. Die Kleinstadt hat die typischen Probleme auch realer ländlicher Regionen: Abwanderung der Jugend, Perspektivlosigkeit, Geldsorgen und Verfall der örtlichen Infrastruktur. Aber auch unser spielimmanenter Eskapismus wird angetastet.
Denn unser ehemaliger Arbeitgeber aus dem Spielintro, die Joja Corporation – ein großer global agierender Mischkonzern, der ein Mix aus Walmart und Amazon darstellt – ist uns längst zuvorgekommen und hat bereits einen Supermarkt in der Gegend errichtet und unterbietet aggressiv die Preise des örtlichen Tante-Emma-Ladens. Der Filialleiter Morris wirkt schon optisch wie ein Vampir und es kommt einem direkt so vor, als würde man mit jedem Einkauf bei ihm statt beim örtlichen Kaufmann, auch jeweils ein Stück seiner Seele lassen. Der Joja-Mart verkörpert ein in den nordamerikanischen Kommunen weit verbreitetes Problem: Großsupermärkte und Malls machen die örtlichen inhabergeführten Ladengeschäfte überflüssig und führen zu einem Sterben der Einkaufsstraßen und Innenstädte, etwas, was wir mancherorts auch in Deutschland beobachten können.
Stardew Valleys Endgame greift diesen Konflikt auf und stellt dafür das örtliche Gemeindezentrum in den Fokus. Als Mischung aus Rathaus, Schule, Kindergarten, Jugendclub und öffentlichem Veranstaltungsort ist es eigentlich das administrative und soziale Herz der Kommune, doch ist es auch schon seit Jahren verfallen und nicht mehr benutzbar. Schlagen wir uns auf die Seite des Joja-Marktes und werden durch eine größere Geldsumme Teil von ihrem VIP-Programm, verkauft der Bürgermeister das Land an die Corporation und der alte Kasten wird eingeschubst.
An seiner Stelle wird ein modernes Logistikzentrum aus dem Boden gestampft, das Arbeitsplätze und die Vorzüge moderner Funktionsarchitektur ins Dorf bringt. Kurzum helfen wir dem Großkonzern dabei, die störende Natur und das identitäre Herz der Gemeinde zu beseitigen und die Beschaulichkeit des Tals durch einen hässlichen, modernen Zweckbau vollends zu ruinieren.
Die guten Geister des Sternentautals
Doch wer will das schon?! Sehen wir uns in dem alten Gemäuer um, bemerken wir, dass es gar nicht so verlassen ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Die örtlichen Naturgeister im Innern wachen von dort aus über die Stadt. Und sie helfen uns dabei, das Gemeindezentrum wieder instand zu setzen, wenn wir das wollen. Doch da ist es nicht mit schnödem Mammon getan.
Die Geister wünschen die Früchte der örtlichen Natur, selbstgekochte Speisen, wertvolle Mineralien aus den hiesigen Bergen, Fisch und allerlei Dinge, die wir mit harter Arbeit auf dem Hof heranziehen als Opfergaben. Alles Erforderliche zusammen zu bringen ist harte Arbeit und kann einen mehrere Spieljahre beschäftigen. Allerdings wird man auch mit kleinen Vorteilen und einem nach und nach, Raum für Raum, in alter Pracht erstrahlendem Gemeindezentrum belohnt.
Die Botschaft hier ist klar: Der Konzern verspricht eine schnelle und schmutzige Lösung für die drängenden Probleme der Gemeinde: eine Finanzspritze und ein paar wenige Arbeitsplätze, die Stardew Valley allerdings seiner Seele berauben. Der Wiederaufbau des Gemeindezentrums hingegen erfordert harte Arbeit und sich mit der Natur, den örtlichen Gegebenheiten und den vielen Orten im Sternentautal auseinanderzusetzen. Hier ist es nicht mit schnellem Geld getan, dafür ist das Ergebnis umso befriedigender und nachhaltiger: Mithilfe der lokalen Geister heilen wir das Herz der Gemeinde und stellen die Seele des Ortes wieder her und machen die Kleinstadt wieder zu einem lebenswerten Ort mit Zukunft, so wie wir es auch mit unserem Hof tun.
Stardew Valley als Heimat
Vor allem ist das Wachstum unseres Hofes direkt mit der Wiederherstellung des Gemeindezentrums verbunden, denn die schwerer zu beschaffenden Opfergaben können wir nur mit einem gut laufenden Betrieb bereitstellen. Dadurch, dass wir uns selbst finden, helfen wir dabei auch der Gemeinde, wieder zu sich selbst zu finden. Der Joja-Markt wird jetzt nicht mehr gebraucht und geschlossen. Ein gelungener idealrechter Abschluss, den wir aber noch krönen können.
Nach Stardew Valley ziehen wir nämlich als Junggeselle. Schließen wir Freundschaft mit den hier lebenden Menschen finden wir vielleicht auch die große Liebe und uns sind nicht nur eine Hochzeit im Spiel, sondern auch Kinder vergönnt, die eines Tages den Hof übernehmen werden. Dadurch machen wir das Sternentautal, das als unsere Zuflucht vor der Welt begann, zu einer neuen Heimat.