Kennt ihr das? Die Sonne strahlt, man spaziert durch die Stadt und auf einmal springen einem von allen Seiten die modernistischen Bausünden ins Gesicht. Plötzlich ist der Sieg der kapitalistischen Konsumgesellschaft über die europäische Kultur allgegenwärtig. Da möchte man am liebsten die Beine in Hand nehmen und das Weite suchen!
Der gutherzige Reaktionär
So erging es auch Regisseur Jacques Tati. Er war dabei, als im Zuge des Wirtschaftswunders in Frankreich, der „Trente Glorieuses“, über Jahrhunderte gewachsene Stadtteile planiert und mit sterilen Beton- und Glaskästen aufgefüllt wurden. In seiner Komödie umspielt Tati das Thema feinfühlig und leicht, ohne dabei den Ernst der Lage zu verkennen. Damit widersetzt er sich dem Impuls, angesichts der katastrophalen Entwicklungen angewidert in Zynismus oder Gehässigkeiten zu verfallen. Stattdessen führt er uns vor Augen, wie albern und nichtig die Auswüchse der Moderne sind, und zaubert uns ein Lächeln auf die Lippen.
Gerade linke Regisseure, die sich um eine Kritik der Moderne bemühen, lieben es, uns Zuschauern bloß die abstoßende Hässlichkeit ins Gesicht zu reiben. Wir sollen geschockt und mit erhobenem Finger belehrt werden. Tati hingegen zeigt, wie es besser geht und wie echte Lebendigkeit wieder möglich wird. Dazu ist er bewusst altmodisch. Obwohl mit Ton und Musik gedreht, verzichtet er fast gänzlich auf Dialoge und stellt sich damit in die Tradition des Stummfilms. Auch mit seinem Erzähltempo widersetzt er sich unserer hektischen und rastlosen Welt. Er lässt sich Zeit, die einzelnen Szenen auf uns wirken zu lassen und überzeugt dabei mit einem naiven und gutherzigen Humor.
Zwei Welten treffen aufeinander
Herr Arpel, Leiter einer Plastikfabrik, hat sich ein blitzblankes und hypermodernes Haus im Neubauviertel gebaut. Dort wohnt er nun mit Frau und Kind. Da er wenig Zeit hat, sich um seinen Sohn zu kümmern, verbringt dieser die Nachmittage mit seinem verschrobenen und tollpatschigen Onkel Hulot. Hulot, der von Tati selbst gespielt wird, ist ein Einzelgänger, der sich nicht in der modernen Welt zurechtfindet und selbstverständlich im traditionellen Altbauviertel lebt.
Tati stellt nun die beiden Stadtteile gegenüber. Das alte französische Viertel steht für bescheidene Verhältnisse und das einfache Leben. Hier hat sich seit der Jahrhundertwende nichts verändert, es fahren noch Pferdekutschen und Mist liegt auf der Straße. Und doch strahlt es eine Ruhe und Gemütlichkeit aus. Die Bewohner kennen sich untereinander, der Markt und die Kneipe sind der Mittelpunkt des Lebens. Hier können sich die Jungs austoben: sie balgen sich, machen sich dreckig oder spielen den Passanten Streiche.
Uns heute nur allzu vertraut ist das Gegenstück: Das kalte Neubauviertel, das zu der Welt der Hochhäuser, Durchfahrtstraßen und Autokolonnen gehört. Es ist nagelneu und hochmodern, aber seelenlos. Die Bewohner sind vermögend und können sich ihre Wünsche erfüllen – doch das macht sie nicht zufriedener. Ganz im Gegenteil hocken sie isoliert in umzäunten Grundstücken und laufen krankhaft jeder neuen Mode hinterher.
Die sterile Neubauwelt macht auch die Menschen kalt
Das beste Beispiel hierfür ist der Neubau der Familie selbst, ein grauer Kasten mit zwei prägnanten, runden Fenstern im ersten Stock, der uns immer wieder zum Kopfschütteln veranlasst. Innen erwartet uns eine gähnende Leere, die nur von unbequemen und unpraktischen Designermöbeln unterbrochen wird. Das Grundstück sieht aus, als hätte Tati prophetisch in die deutschen Gärten des 21. Jahrhunderts geblickt. Die Wege schlängeln sich entlang trauriger Schotterbeete und kümmerlicher Koniferen. Das noch als Garten zu bezeichnen ist wohl ein Euphemismus, denn echte Natur suchen wir vergebens. Stattdessen strotzt alles vor einem peniblen Drang nach Ordnung und Sauberkeit, der sich vor allem Lebendigen fürchtet.
Dafür gibt es Technik in Hülle und Fülle. Wann immer möglich, wird die neuste Technologie eingesetzt; ein Ansatz, der heute unter dem Begriff „Smart Home“ vermarktet wird. Alles muss elektronisch über Fernsteuerungen bedient werden können. Mit einem elektrischen Tor riegeln die Arpels ihren Besitz ab. Die Absurdität erreicht ihren Höhepunkt, als selbst das Steak in der Pfanne per Knopfdruck gewendet wird!
Die Falschheit der modernen Plastikwelt färbt auch auf ihre Bewohner ab. Ganz nach dem amerikanischen Motto „Mehr Schein als Sein“ ist Familie Arpel strengstes darauf bedacht, bei ihren neuen Nachbarn Eindruck zu schinden. Am deutlichsten wird dies Anhand des lächerlichen fischförmigen Wasserspeiers. Immer, wenn Besucher läuten, wird auf Knopfdruck das Wasserspiel aktiviert. Doch stellt sich heraus, dass es sich bloß um Hulot oder einen Handwerker handelt, wird die Fontaine ganz schnell wieder abgedreht.
Fazit
Tati erkannte, dass Tradition nur dort erhalten bleibt, wo sich die Menschen das neue Konsumleben noch nicht leisten können. Sobald Geld da ist, wird planiert und zerstört. Der Film legt den Finger in die Wunde: Warum laufen wir hinter jedem Modetrend her? Wo ist unser Gespür für Ästhetik geblieben? Warum sind wir bereit, das Leben einem fehlgeleiteten Effizienzdenken unterzuordnen? Wie konnte es zu diesem Kulturverfall kommen?
Mit seiner Kritik an der Architektur spricht Tati ein Thema an, das wir von Dieter Wieland kennen. Dieser klagt in seinen Dokumentationen der 80er Jahre:
„Städte haben wir verpfuscht. […] Was Gassen und Plätze einst an städtebaulicher Qualität, an unverwechselbaren Bildern boten, an Milieu und Atmosphäre, haben wir autogerecht zerhackt und mit Monotonie und Gesichtslosigkeit […] aufgefüllt. […] Wir begeben uns bereits auf die aufwendige Flucht vor diesen Städten, suchen in den entferntesten Winkeln der Erde Ersatz für die Schönheit, um die wir uns betrogen haben. Entzugserscheinungen – wir suchen die Wärme und Intimität in den Winkeln und Gassen alter, unberührter Städte und Dörfer, wie man sich in der Kälte um das Feuer schart.“
Mein Onkel ist ein Aufruf zum Widerstand des Lebens gegen die falsche und künstliche Plastikwelt. Ein „Ja“ zu all dem, was als altmodisch, überholt und langweilig gilt. Ein Ja zu Menschlichkeit und Authentizität, wie für Architektur und Stil. Der Film widersetzt sich dabei dem Zynismus des Liberalismus. Trotz seiner tiefgreifenden Kritik bleibt er positiv, gutherzig. Er ist der Inbegriff einer Revolte gegen die moderne Welt.